Jenseits des Kapitalismus

Richard Löwenthal: Nach 30 Jahren Einführung zur Neuauflage 1977

I. Kapitaleigentum und demokratische Wirtschaftslenkung

Kapitalmacht und demokratische Staatsmacht

II. Neue weltwirtschaftliche Krisenfaktoren

Die Bedingungen der Währungsstabilität

Die Notwendigkeit internationaler Institutionen

Der weltwirtschaftliche Verteilungskampf

IV. Eine Krise der westlichen Zivilisation?

Der Verlust des Fortschrittsglaube
Die Ursachen des »Sinnverlusts«

V. Die sozialistische Idee heute

Neue Schranken des Fortschritts - neue strategische Aufgaben
Die nationalen Schranken der Wirtschaftslenkung
Bewegung und Ziel

Die vorliegende Schrift wurde 1946 in London geschrieben und Anfang 1947 in der damaligen amerikanischen Besatzungszone Deutschlands veröffentlicht. Ich zeichnete sie mit dem Pseudonym Paul Sering, unter dem ich während des Dritten Reiches als Vertreter der deutschen sozialistischen Widerstandsgruppe »Neu Beginnen« publiziert hatte - zuerst in der Tschechoslowakei, später in Frankreich und England -, und ich widmete sie »Meinen überlebenden Freunden in Deutschland«. Sie sollte den so lange von der internationalen Information und Diskussion abgeschnittenen demokratischen Sozialisten meines Heimatlandes zur Neuorientierung in einer veränderten Welt dienen; sie sollte insbesondere angesichts der furchtbaren Erfahrung des totalitären Nationalsozialismus in Deutschland und angesichts der akuten Bedrohung durch den totalitären Kommunismus Stalins von Rußland her sowohl diese Phänomene verständlich machen, wie die Grundzüge einer demokratisch-sozialistischen Alternative für die Lösung der von der kapitalistischen Entwicklung geschaffenen Probleme darstellen. Die Dringlichkeit der Aufgabe, in einer so verwirrenden und bedrohlichen Situation einen Beitrag zur Neuorientierung zu leisten, erlaubte mir nicht, neben meiner damaligen Berufstätigkeit als englischer Journalist ein Buch mit wissenschaftlichem Apparat zu schreiben: Die knappste Entwicklung meiner Gedanken zu dem umfassenden Thema mußte genügen, unterstützt nur von einem Anhang mit kommentierenden Hinweisen auf die wichtigste einschlägige Literatur des Auslands.

Der Zweck eines Beitrags zur Neuorientierung wurde damals in erheblichem Grade erreicht. Nachfrage und Widerhall waren in jenen Jahren des allgemeinen Ideenhungers außerordentlich, die Auflage zunächst nur durch den Papiermangel begrenzt. Natürlich wurde das Buch nicht zur »offiziellen Theorie«der deutschen Sozialdemokratie, weil es so etwas in einer demokratischen Partei unserer Tage nicht geben kann. Aber es wurde nicht nur von den älteren und jüngeren Aktivisten der wiedererstandenen demokratischen Arbeiterbewegung, von Kurt Schumacher bis Willy Brandt, mit viel Zustimmung gelesen, sondern gab vor allem jenen eine Grundlage, die - beginnend mit der Generation Helmut Schmidts - damals neu zu dieser Bewegung stießen. Es wurde auch in der damaligen sowjetischen Besatzungszone»illegal« in Umlauf gesetzt und hat dort für den Widerstand gegen die Zwangsfusion von Sozialdemokraten und Kommunisten Argumente geliefert: Mein einstiger Studienfreund Wolf Abendroth, der damals in Halle lehrte, gab es heimlich seinen Studenten, und Wolfgang Leonhard und Carola Stern lasen es auf der Parteihochschule der SED! Noch in den Anfängen der Studentenrevolte der 60er Jahre wurde das Buch von Rudi Dutschke wiederentdeckt und - zum Teil gegen mich - zitiert...

Die beträchtliche Wirkung der Schrift zu ihrer Zeit ist auch der Grund, warum der Dietz-Verlag mir eine Neuauflage nach 30 Jahren vorgeschlagen hat: Als ein Dokument zur Geschichte der geistigen und politischen Entwicklung der deutschen demokratisch-sozialistischen Bewegung. Als Dokument wird sie hier unverändert abgedruckt. Aber in den drei Jahrzehnten, seit sie geschrieben wurde, hat die gesellschaftliche Entwicklung die Menschheit, und mit ihr diese Bewegung, vor völlig neue Probleme gestellt, und neue Erfahrungen haben auch die in ihr behandelten Probleme zum Teil in neuem Licht erscheinen lassen.

Die neuen Probleme

So haben die demokratisch regierten Industrieländer in Nordamerika, Westeuropa und Japan ein Vierteljahrhundert beispiellosen stetigen Wirtschaftswachstums bei hohem Beschäftigungsniveau und intensiver währungs- und wirtschaftspolitischer Zusammenarbeit, von dem internationalen Währungsabkommen von Bretton Woods über den Marshallplan bis hin zur Entwicklung der europäischen Gemeinschaft, ohne entscheidende Eingriffe in das kapitalistische Eigentum erlebt. Doch die Entwicklung des letzten Jahrzehnts hat in den gleichen Ländern eine beschleunigte Weltinflation, gipfelnd im Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods und einer Kette von Auf- und Abwertungen, gebracht; und deren desorganisierende Wirkung, verschärft durch die von Ölboykott und Ölpreiserhöhung ausgelöste Energiekrise, hat zu der ernstesten weltwirtschaftlichen Rezession seit 1932 geführt.

Die Sowjetunion hat in den gleichen Jahrzehnten nicht nur ihre neu aufgebaute osteuropäische Machtsphäre trotz schwerer Krisen konsolidieren können, sondern ist zur nuklearen Weltmacht herangewachsen. Die politisch-ideologische Auseinandersetzung um die Grenzen ihrer Machtausdehnung hat schnell zu einer weltpolitischen Polarisierung um den Gegensatz zwischen totalitären Einparteistaaten und demokratisch regierten Industriestaaten geführt. Zugleich hat die sowjetische Führung nicht vermocht, aus eigenständigen Revolutionen hervorgegangene kommunistische Regime, wie Jugoslawien und später die zweite kommunistische Großmacht China, kraft ideologischer Autorität unter ihrer Kontrolle zu halten, und die Konflikte zwischen ihnen haben eine pluralistische Aufsplitterung der einst von Moskau gelenkten kommunistischen Weltbewegung eingeleitet. Seit Stalins Tod hat die Sowjetunion auch einen Wandel ihres inneren Systems durchgemacht - zurück vom persönlichen Despotismus zum institutionellen Einparteiregime, aber auch fort von der Dynamik gewaltsamer Revolutionen von oben zu einem Regime der konservativen Erstarrung. Die Enttäuschung an den Früchten der »Weltrevolution« und das Erlöschen der inneren Dynamik des Sowjetregimes haben auf der Grundlage der seit langem bestehenden Einsicht beider Nuklearmächte in die Gemeinsamkeit ihres Interesses am Überleben, also an der Begrenzung der Formen ihres Konflikts, seit Ende der sechziger Jahre zur »Entspannung«, d. h. zu zunehmend ernsten Verhandlungen über eine Lösung von Teilkonflikten und eine Begrenzung der Rüstungen geführt, ohne jedoch die grundsätzliche Teilung der Welt durch den Systemkonflikt aufzuheben.

Die vergangenen Jahrzehnte haben auch die fast völlige Auflösung der alten Kolonialreiche und die Entstehung einer »Dritten Welt« von neuen Staaten gebracht, die das Ziel einer beschleunigten wirtschaftlichen Modernisierung überwiegend in Unabhängigkeit von beiden weltpolitischen Blöcken und unter Ausnutzung ihres Wettbewerbs zur Gewinnung von Entwicklungshilfe verfolgen. Die Ergebnisse haben sich jedoch, trotz gewachsener öffentlicher und privater Investitionen des Westens und geringerer, aber ebenfalls erheblicher des Sowjetblocks, als ganz ungenügend erwiesen, um in vielen dieser Länder zunehmendes Massenelend zu vermeiden. Neben der Zunahme von Massenarbeitslosigkeit und Hunger in Ländern, deren Industrialisierung und Agrarproduktion mit der rapiden Bevölkerungszunahme nicht schritthalten, spielt dabei die lange ungünstige Entwicklung der Rohstoffpreise relativ zu den Industriepreisen eine wesentliche Rolle: Die Forderung der Entwicklungsländer nach einer politischen Preisregelung ist in den letzten Jahren zu einem Kernpunkt ihrer Auseinandersetzung mit den »reichen«Industrieländern geworden.

Doch die Veränderungen der vergangenen drei Jahrzehnte beschränken sich nicht auf Politik und Ökonomie. In dem Teil der Welt, der sich am schnellsten verändert hat - dem industriellen Westen - hat die Jugendrevolte der späten sechziger Jahre offenbart, daß in einem großen Teil der jungen Generation die kulturellen Grundhaltungen des Westens, d. h. die wertorientierten Verhaltensweisen, in Frage gestellt werden; und diese kulturelle Entfremdung hat den gewaltsamen Ausbruch von damals überdauert. Ein radikaler Zweifel am Sinn der Konsum- und Leistungsgesellschaft, ein Verlust des Vertrauens in die bürokratisch entfremdete parlamentarische Demokratie und ein Suchen nach neuen Formen der Partizipation haben wichtige Teile der berufsmäßig mit der »Vermittlung von Sinn« befaßten intellektuellen Schichten erfaßt und das Klima der öffentlichen Diskussion verändert; und die Flucht aus der Anomie in die Utopie hat auch in der Debatte um den Inhalt der sozialistischen Idee neue Fragen aufgerollt.

Es ist natürlich unmöglich, diese Fülle neuer Probleme im Rahmen der Einführung zu einem vor dreißig Jahren geschriebenen Buch systematisch und ausführlich zu behandeln. Ebensowenig ist hier der Platz, mich mit der einschlägigen neueren wissenschaftlichen Literatur, insbesondere auch der »neomarxistischen« Literatur, auseinanderzusetzen. Doch ich würde meiner Verantwortung als Autor nicht gerecht werden, wenn ich dieser Neuauflage zustimmte, ohne deutlich zu machen, worin und warum ich meinen Standpunkt geändert habe, und ohne meine Stellungnahme wenigstens zu einigen der neuen Probleme zu skizzieren. Dies soll auf den folgenden Seiten geschehen.

I. Kapitaleigentum und demokratische Wirtschaftslenkung

Meine Darstellung der Selbstzersetzung des »freien« Monopolkapitalismus (Kap. 2) - der von Ideologen zu Unrecht so genannten »freien Marktwirtschaft« - erscheint mir auch heute als in allen Kernpunkten richtig. Dagegen scheint mir heute, daß meine Behandlung des Übergangs zum »Plankapitalismus«und meine Schlußfolgerungen über dessen Entwicklungsmöglichkeiten (Kap. 4) zu einseitig von den historisch zufälligen Formen dieses Übergangs im Zuge der Weltwirtschaftskrise von 1929/32 bestimmt waren: Jene Krise führte zu einem zeitweisen Zusammenbruch des internationalen Kredits und des Weltwährungssystems, und als Reaktion darauf entstanden eine Reihe von Versuchen nationalstaatlicher Mangelplanung, in denen sich die notwendigen Merkmale einer staatlichen Ankurbelungs- und Vollbeschäftigungspolitik im Keynes'schen Sinne mit den zeitgebundenen Konsequenzen von Zahlungsbilanzkrise und Devisenkontrolle - also mit Rohstoffzuteilung und Verbrauchsrationierung - vermengten. Das gilt insbesondere für die beiden Beispiele, die mein Bild vom Übergang zur Planwirtschaft damals am meisten beeinflußten - die nationalsozialistische Planung einerseits, die englische Kriegs- und unmittelbare Nachkriegswirtschaft andererseits. Daher meine damalige These, daß der Entschluß zur Ankurbelung der Gesamtwirtschaft durch nationale Kreditschöpfung notwendig zu einer zweiten Stufe der »Koordinierung der Teilmärkte«, d. h. der zunehmenden Detaileingriffe in den Marktmechanismus, führen müsse. 1 Eine solche Detailplanung schien mir aber auf der Grundlage kapitalistischen Eigentums nur als imperialistische Rüstungs- und Expansionsplanung möglich, während eine am Massenkonsum orientierte »Wohlfahrtsplanung« zu ihrem Erfolg notwendig entscheidende Eingriffe in das Kapitaleigentum voraussetzen würde.

Von der Mangelplanung zur Globalsteuerung

Der Ausgangspunkt für die ganz andersartige tatsächliche Entwicklung der folgenden Jahrzehnte war einerseits die politische Festlegung nicht nur Englands, sondern der Vereinigten Staaten - die unmittelbar nach dem Kriege mehr als die Hälfte der Industrieproduktion der Welt ausmachten - auf das Prinzip der Verantwortung des Staates für »Vollbeschäftigung« und seine Durchführung mit Mitteln der monetären und fiskalen Politik, andererseits die Schaffung des Weltwährungssystems von Bretton Woods unter amerikanischer Führung. Unter diesem System, das den Dollar zur Weltreservewährung an Goldes statt machte, und seiner Handhabung durch die amerikanischen Regierungen im Sinne von»Vollbeschäftigung« und Wirtschaftswachstum nicht nur für die USA, sondern durch Überwindung der anfänglichen weltweiten Dollarknappheit mit Hilfe des Marshallplans und anderer Anleihen auch für die anderen demokratischen Industrieländer, wurde eine Planung mit vorwiegend monetären und fiskalischen Mitteln, ohne die Detaileingriffe der nationalen Mangelplanung der Krisen- und Kriegszeit, international wirksam; und diese Form der »Globalsteuerung« der Wirtschaft durch die demokratischen Staaten, die in der Bundesrepublik Deutschland aus ideologischen Gründen ungern als Planung bezeichnet wird, hat in den mehr als zwei Jahrzehnten vom Ende der vierziger zum Anfang der siebziger Jahre eine beispiellose Aufwärtsentwicklung von Produktion, Lebensstandard und sozialer Sicherheit in den demokratisch regierten Industrieländern ermöglicht. Der »klassische« Wechsel von Aufschwungs- und Depressionsphasen in der kapitalistischen Wirtschaft hatte in diesen Jahrzehnten aufgehört, ein»Krisenzyklus« zu sein, und war auf relativ geringe Ausschläge der Wachstumskurve reduziert worden - und das unabhängig davon, ob das einzelne Land wichtige Schlüsselindustrien verstaatlicht hatte, wie Großbritannien und Frankreich nach dem Kriege, oder nicht; selbst die Bundesrepublik, deren Regierungen bis 1966 von einer Globalsteuerung nichts wissen wollten, hat von der weltweiten Einführung der neuen wirtschaftspolitischen Methoden indirekt profitiert und sie unter dem Eindruck des ersten ernsten Rückschlags 1967 erfolgreich übernommen.

Kein Zwang zum »Planimperialismus«

Nun trifft es, im Gegensatz zu einer zeitweise populären neomarxistischen These, nicht zu, daß das für entwickelte Industrieländer beispiellose Wirtschaftswachstum dieses Vierteljahrhundert in der Hauptsache auf geplante Rüstung und imperialistische Expansion zurückzuführen wäre. Es fiel im Gegenteil zusammen mit dem weltweiten Prozeß der Entkolonisierung, und so gewiß die westlichen Kapitalinvestitionen in den ehemaligen Kolonialgebieten seither weiter zugenommen haben, so gewiß machen sie einen abnehmenden Anteil des gesamten westlichen Kapitalexports, geschweige der Gesamtinvestitionen der kapitalistischen Länder aus. Auch die westliche Rüstung war allenfalls eine mindere Komponente des allgemeinen Wirtschaftswachstums; spezielle Rüstungsbooms zur Zeit des Korea- und Vietnamkrieges machten sich besonders in den Vereinigten Staaten als zusätzliche - und deshalb inflationäre - Konjunkturantriebe bemerkbar, doch selbst in den späteren Jahren des Vietnamkriegs hat der Anteil der Sozialausgaben an den öffentlichen Ausgaben der USA, einschließlich der Staaten und Gemeinden, auf Kosten des Anteils der Rüstungsausgaben zugenommen. 2 Die 1946 von mir vertretene These, eine erfolgreiche Politik der Vollbeschäftigung und des stetigen Wachstums sei in Gesellschaften mit kapitalistischem Eigentum nur als imperialistische Planung für Rüstung und Expansion möglich, ist mithin empirisch nicht zu halten - so wenig wie die neoliberale These, daß der Erfolg lediglich der freien Marktwirtschaft geschuldet sei.

Mit anderen Worten: Erfolgreiche »Wohlfahrtsplanung« in meinem Sinne, in der heutigen Sprache erfolgreiche Globalsteuerung mit den beschränkten Mitteln vorwiegend indirekter, monetärer und fiskalischer Eingriffe in den Marktmechanismus hat sich in entwickelten Industrieländern mit kapitalistischem Eigentum ein Vierteljahrhundert lang als möglich erwiesen. Der Erfolg war von Land zu Land nicht gleichmäßig und immer wieder von kleineren Rückschlägen unterbrochen, aber im ganzen in seiner Auswirkung auf den Lebens- und Wohlfahrtsstandard so dramatisch, daß man von einer neuen geschichtlichen Phase des demokratisch gesteuerten Kapitalismus sprechen muß, die von dem »Ende des freien Kapitalismus« in der Weltwirtschaftskrise und den damals eingeleiteten Planungsexperimenten ihren Ausgang nahm, aber erst mit dem neuen Weltwährungssystem der Nachkriegszeit ihre eigentliche Herrschaft antrat. 3 Dabei ist der Übergang zu dieser neuen Phase zu einem wesentlichen Teil unter dem Einfluß der demokratischen Arbeiterbewegung - der sozialdemokratischen Parteien in England und Skandinavien, und schließlich auch in der Bundesrepublik Deutschland, der Gewerkschaften und des von ihnen beeinflußten Flügels der Demokratischen Partei in den USA, erfolgt; und die Rückschläge gehen zum Teil auf Phasen konservativer Regierungspolitik (wie unter Eisenhower in USA und Erhard in der Bundesrepublik) zurück. Wo aber eine Regierung aktive Maßnahmen zur Überwindung solcher Rückschläge zu treffen entschlossen war, wie Kennedy oder die Regierung der Großen Koalition in Bonn, da ist sie auf keine wesentlichen kapitalistischen Widerstände gegen die Ankurbelung der Investitionen gestoßen: Wo die Profitmöglichkeiten geschaffen wurden, haben die kapitalistischen Unternehmungen sie nicht deshalb ausgeschlagen, weil sie von der Hebung des Massenkonsums abhingen.

Die Möglichkeit kapitalistischer »Planung für Massenkonsum«

Diese empirische Feststellung erfordert aber drei theoretische Schlußfolgerungen - über die Dynamik des Kapitalismus der hochentwickelten Länder, über den Klassencharakter der demokratischen Industriestaaten und über die Wechselwirkung zwischen beiden. Die erste Schlußfolgerung bezieht sich auf die Erklärung des Ausmaßes, in dem der hochentwickelte Kapitalismus sich am Massenkonsum orientiert hat, und seine Konsequenzen.

1946 hatte ich gegen die Möglichkeit von »Wohlfahrtsplanung« auf der Grundlage des Kapitaleigentums zwei Argumente angeführt: Daß sich bei der Produktion von Konsumgütern für den inneren Markt das in der freien Konsumwahl liegende Risiko des Unternehmers nie so beseitigen läßt, wie bei der Produktion für den Rüstungsbedarf des Staates und für abhängige Märkte; und daß eine stetige Erweiterung des Massenkonsums nur durch Erhöhung des Einkommensanteils der arbeitenden Bevölkerung, also durch Senkung des Profitanteils möglich ist, der im Kapitalismus die Investition motiviert. Das erste Argument ist grundsätzlich richtig, aber von begrenzter Tragweite: es läuft darauf hinaus, daß eine konsumorientierte Globalsteuerung mit Teilrisiken verbunden bleibt und daher Teilrückschläge nicht ausschließen kann, so daß das Wirtschaftswachstum, auch bei stetiger Aufwärtsentwicklung im ganzen, immer wieder in einzelnen Ländern und Perioden hinter dem Ziel der Vollbeschäftigung zurückbleibt - wie das in der Tat der Fall ist. Das zweite Argument erweist sich bei erneuter Überprüfung als falsch: Bei stetig anwachsender Produktion und Produktivität ist ein massives Anwachsen des Massenkonsums auch bei konstantem Einkommensanteil der arbeitenden Bevölkerung möglich, und überdies bleibt bei stetigem Wachstum auch ein langsames, säkulares Anwachsen des Einkommensanteils der Arbeitenden mit wachsenden Profitmassen verträglich, die in der Regel für den Investitionsanreiz ausreichen. Das gilt insbesondere, weil die Investitionsschübe selbst unter Bedingungen wachsenden Massenkonsums nicht mehr nur von Veränderungen der Produktionstechnik, sondern zunehmend von Wellen der Einführung neuer dauerhafter Konsumgüter hervorgerufen werden, und weil die Dynamik der großen Unternehmungen in den entwickelten Industrieländern zu einem wachsenden Anteil auf die Entdeckung neuer potentieller Bedürfnisse dieser Art orientiert ist - man denke an die Entdeckung des Autos als Gegenstand des Massenkonsums, an die Entwicklung des Versandgeschäfts für Wohnungseinrichtungen, an Radio, Fernsehen, Waschmaschinen usw. Diese Konsumdynamik des hochentwickelten Kapitalismus ist übrigens auch der Grund, warum die Lebensweise der Bevölkerung der kapitalistischen Industriegesellschaften in den letzten Jahrzehnten stärker von der Konsumseite her umgestaltet worden ist als von der Produktionsseite, so daß das Alltagsleben der Menschen im angeblich konservativen Westen sich schneller sichtbar verändert hat als im angeblich revolutionären Osten - besonders dramatisch für die Landbevölkerung: Nicht die Umwälzung in den Produktivkräften selbst, sondern die von den gleichen technischen Neuerungen ermöglichte Veränderung im Freizeitalltag ist heute für die Lebensform entscheidend.

Kapitalmacht und demokratische Staatsmacht

Der zweite Schluß stellt den Klassencharakter der modernen Demokratien in Frage. In der vorliegenden Schrift habe ich betont, daß der Staat immer auch - wenn auch nicht nur - Unterdrückungsapparat im Interesse der bestehenden Gesellschaftsordnung, und insofern im Interesse von deren »herrschender Klasse« ist. Aber wenn es der Arbeiterbewegung im Rahmen dieses demokratischen Staates, ohne eine»diktatorische« Mehrheit und mit Hilfe freiwilliger, sozial fortschrittlicher Verbündeter, gelungen ist, den Staat zum Instrument einer Politik der Vollbeschäftigung und des stetigen Wirtschaftswachstums zu machen - kann man dann noch von einem kapitalistischen Klassencharakter des Staates sprechen? Wenn mit dem Auf und Ab der demokratischen Wahlen Regierungen, deren Vorstellungswelt und Entscheidungen wesentlich von den Vorstellungen und Interessen der großen kapitalistischen Unternehmungen bestimmt werden, mit anderen abwechseln, deren Politik von den Vorstellungen und Interessen der breiten Volksmassen mit der organisierten Arbeiterschaft als Kern geprägt sind - hat es dann einen Sinn, die Existenz einer institutionell gesicherten Klassenherrschaft zu behaupten? Alle unsere demokratisch organisierten Industriegesellschaften, von Westeuropa über USA bis Japan, sind zweifellos auch heute noch Klassengesellschaften. Aber ihre staatlichen Institutionen werden deswegen nicht automatisch zur Erhaltung einer Klassenherrschaft eingesetzt - sie sind selbst umkämpft, und dienen häufig dem Kampf um den Abbau der überkommenen Klassenstruktur.

Der dritte Schluß aber besagt, daß die neue Rolle des Staates als Träger der ökonomischen Globalsteuerung noch nicht seine gesicherte Vormacht über die Dynamik der Eigenbewegung des Kapitals bedeutet: Wir sind auch heute noch nicht »jenseits des Kapitalismus«. Vielmehr stehen die Dynamik des demokratischen Staates, die tendenziell zunehmend, aber nicht kontinuierlich zunehmend von den Bedürfnissen der arbeitenden Massen bestimmt wird, und die Eigendynamik des Kapitals, das seinen eigenen Verwertungsbedürfnissen folgt, aber zunehmend unter vom Staat gesetzten Bedingungen, in ständiger, konfliktreicher Wechselwirkung miteinander. Staatliche Maßnahmen bestimmen immer häufiger, was profitabel ist und wo Investition sich lohnt. Aber private und immer häufiger »multinational« private Investitionen begrenzen nicht weniger oft, was staatlicher Wirtschaftspolitik rational möglich ist. Der demokratisch gesteuerte Kapitalismus ist immer noch Kapitalismus. Der Kampf um die Verschiebung der Machtverhältnisse geht weiter.

Aber wenn wir auch heute nicht »jenseits des Kapitalismus« sind, dann ist es auch überspitzt, allgemein von der Ablösung der kapitalistischen durch eine »hierarchische Produktionsweise« zu sprechen, wie ich es 1946 tat (Kap. 8). Es trifft zu, daß die Marktbeziehungen durch Beziehungen der Kooperation, Über- und Unterordnung zurückgedrängt und in ihrer Wirkung beschränkt worden sind; es trifft nicht zu, daß sie durch diese neuen Beziehungen abgelöst worden sind. Es trifft zu, daß die klassische kapitalistische Beziehung zwischen Lohnarbeit und Kapital durch politischen Einfluß auf den Verteilungsprozeß und auf die Verwertungsbedingungen des Kapitals wesentlich modifiziert worden ist. Es trifft nicht zu, daß Kapitalmarkt und Arbeitsmarkt in nichttotalitären Staaten durch staatliche Lenkung ersetzt worden ist. Es war richtig, von der Herausbildung einer neuen »Produktionshierarchie« zu sprechen, in der Kapitaleigentümer, angestellte Manager und Bürokraten verschmelzen; und es hat sich bestätigt, daß in der Leitung vieler Großkonzerne das Element erblichen Privateigentums gegenüber den auf Grund ihrer Qualifikation aufgestiegenen Leitungsfunktionären mehr und mehr zurücktritt. Aber es bleibt auch richtig, daß diese Leitungsfunktionäre nach wie vor nach ihrer Fähigkeit beurteilt werden, stabile Profite zu sichern, und daß sie durch neueindringende, aktienaufkaufende Unternehmer gestürzt werden können, wenn sie in den Augen eines erheblichen Teils der Aktionäre versagen.

Die Produktionsweise der nichtkommunistischen Industriegesellschaften ist so durch eine Mischung kapitalistischer Marktbeziehungen mit tendenziell nachkapitalistischen, organisierten Beziehungen gekennzeichnet. Überdies erscheint mir heute auch die Bezeichnung dieser organisierten Beziehungen als »hierarchisch« einseitig und mißverständlich. In der tatsächlichen Entwicklung der Großbetriebe und Verwaltungen hat sich eine Form der Organisation als überlegen erwiesen, in der die unvermeidliche Über- und Unterordnung von einem hohen Maß der Dezentralisation und Konsultation begleitet wird, während man von »Hierarchie« heute meist dann spricht, wenn man eine rückständige, autoritäre Form der Überzentralisierung meint, wie sie auch heute noch das sowjetische System weitgehend kennzeichnet. 4 Für die Wirklichkeit der demokratischen Industriestaaten von heute scheint mir so der Begriff eines hochorganisierten und demokratisch gesteuerten Kapitalismus zutreffender, als der einer»hierarchischen Produktionsweise«.

II. Neue weltwirtschaftliche Krisenfaktoren

Zu Beginn der 70er Jahre wurde die wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung der demokratisch gesteuerten kapitalistischen Länder durch die Einwirkung neuer Krisenfaktoren unterbrochen. Die sichtbaren dramatischen Wendepunkte waren einmal der Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods mit der offiziellen Loslösung des Dollars vom Gold im August 1971, zum andern die Auslösung einer weltweiten Energiekrise durch den arabischen Ölboykott im Zuge des Nahostkriegs vom Herbst 1973. Doch in beiden Ereignissen manifestierten sich langfristige Probleme der weltwirtschaftlichen Entwicklung: Die langfristige Inflationstendenz in den kapitalistischen Industrieländern und ihre Beschleunigung in den unmittelbar vorhergehenden Jahren einerseits, die Tendenz des stetigen,»exponentialen« Wirtschaftswachstums zur Annäherung an die Grenzen der verfügbaren Rohstoff- und Energiequellen andererseits.

Die Ursachen der Weltinflation

Es war seit langem bekannt, daß stetige annähernde Vollbeschäftigung in einer Marktwirtschaft mit starkem Monopolsektor und unabhängigen Gewerkschaften eine nicht minder stetige Tendenz zur Erhöhung des Lohn- und Preisniveaus, über die jeweils mögliche Reallohnsteigerung hinaus, d. h. eine stetige Inflationstendenz auslöst. Es war jedoch die überwiegende Ansicht der Wirtschaftsfachleute wie der Politiker in den westlichen Demokratien, daß es sich lohnt, um der Erhaltung von Vollbeschäftigung und Gewerkschaftsfreiheit willen eine mäßige Inflationstendenz in Kauf zu nehmen, solange sie sich nicht beschleunigte.

Ein zweiter, weniger allgemein erkannter stetiger Inflationsfaktor war der zunehmende Anteil der Beschäftigten in den öffentlichen Diensten an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen. In solchen öffentlichen Diensten wie Verwaltung, Erziehungs- und Gesundheitswesen ist der Anteil der Arbeitskosten an den Gesamtkosten höher und die meßbare Zunahme der Produktivität der Arbeit dank technischer und organisatorischer Fortschritte geringer als im Durchschnitt der Industrie; aus beiden Gründen wirkt die gleiche Lohnerhöhung wie in der Industrie hier in höherem Maße kostensteigernd.

Tatsächlich haben jedoch beide Faktoren zusammen bis Mitte der sechziger Jahre in den meisten Ländern nur zu einer mäßigen, nicht automatisch beschleunigten Inflationsrate von etwa drei Prozent jährlich geführt, die mit einem stabilen Wirtschaftswachstum noch verträglich war. Die Beschleunigung seit diesem Zeitpunkt beruhte wesentlich auf einem dritten Faktor: Dem Entschluß der Regierung der Vereinigten Staaten zur Zeit des Vietnamkriegs, das Anwachsen der negativen Zahlungsbilanz durch eine Dollarschwemme zu finanzieren. (Die banktechnische Mechanik des sogenannten Eurodollarmarktes hat in der gleichen Richtung gewirkt.) Daß diese Dollarschwemme zur beschleunigten Weltinflation führte, lag in der Eigenart des Weltwährungssystems von Bretton Woods. Unter diesem System war die Expansionsfähigkeit des Goldstandards dadurch von den Schranken der begrenzten Goldproduktion befreit worden, daß der Dollar zu einem festen Goldwert zur allgemeinen »Reservewährung«erklärt wurde, die jede Zentralbank an Goldes statt halten und im Prinzip jederzeit gegen Gold einwechseln konnte. Die faktische inflationäre Entwertung des Dollars bei Beibehaltung eines fiktiven Goldwerts und entsprechender Wechselkurse gegen andere Währungen führte so notwendig zur beschleunigten Inflation im Weltmaßstabe, bis schließlich die Aufhebung des fiktiven Goldwerts die Geltung der Abmachungen von Bretton Woods beendete. Damit aber erfolgte nicht nur eine faktische Abwertung des Dollars, sondern eine grundsätzliche Freigabe aller Wechselkurse für Maßnahmen der nationalen Währungspolitik - und die Versuchung, inneren Verteilungskonflikten durch beschleunigte Inflation auszuweichen, wurde damit für alle Beteiligten zunächst noch vergrößert.

Aus der Phase nach der Loslösung des Dollars vom Gold stammen die zweistelligen Inflationsziffern in einigen Ländern; aus ihr stammen auch die Theorien, daß das freie Spiel der organisierten Gruppeninteressen, insbesondere der Monopole und Gewerkschaften, in den kapitalistischen Demokratien notwendig zur unkontrollierbaren, beschleunigten Inflation führe. Tatsächlich ist die seitherige Entwicklung jedoch anders verlaufen. Die meisten Regierungen haben der mit dem Fehlen eines gültigen Weltwährungssystems gegebenen Versuchung zu einem Wettlauf der - offiziellen oder stillschweigenden - Abwertungen widerstanden, und die Inflation hat sich schließlich in fast allen Industrieländern wieder verlangsamt, in einigen erheblich.

Die Bedingungen der Währungsstabilität

Durch diese neueste Entwicklung ist nun zwar die These von der systemimmanenten Notwendigkeit beschleunigter Inflation widerlegt. Ihre jederzeitige Möglichkeit besteht jedoch fort, solange nicht ein neues, zugleich flexibles und gegen einseitigen Mißbrauch gesichertes Weltwährungssystem geschaffen ist. Das Prinzip eines solchen Systems - die Verwendung der Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds als Reserve ohne Privilegierung einer nationalen Währung - ist seit langem bekannt. Seine Verwirklichung wirft jedoch die politische Machtfrage nicht nur nach den Ausgangskursen einer Stabilisierung, sondern nach der Zusammensetzung der internationalen Körperschaft auf, die über die Handhabung dieser effektiven Weltwährung entscheiden würde. Die Hauptschwierigkeit hier liegt nicht in den zum Teil konkurrierenden Interessen der kapitalistischen Demokratien, die bereits über eine lange Praxis der Kompromisse auf der Basis der überwiegenden gemeinsamen Interessen verfügen, sondern in dem weltweiten Verteilungskonflikt zwischen ihnen und den Entwicklungsländern - insbesondere dem Konflikt um die relative Entwicklung der Industrie- und Rohstoffpreise. Hier verquickt sich das Währungsproblem mit den Problemen der weltweiten Verteilung und der »Grenzen des Wachstums«.

Die »Grenzen des Wachstums«

Die Diskussion über dieses Thema hat Jahre vor der Ölkrise im wesentlichen mit der gleichnamigen Veröffentlichung des »Clubs von Rom« begonnen. 5 Das durch die mathematische Form der Darstellung nahegelegte Mißverständnis, als ob es sicn um die Voraussage einer berechenbaren absoluten Grenze für das Wachstum der Industrieproduktion - und der Weltbevölkerung - handle, ist inzwischen von den Sprechern des Clubs selbst korrigiert worden. Doch alle noch so berechtigten Hinweise auf die Möglichkeit der Erschließung neuer Energiequellen und verwendbaren Materialien durch technischen Fortschritt, auf unerschlossene Fundstätten und neue Methoden der Wiederverwendung verbrauchten Materials, und alle ideologische Polemik gegen den angeblichen »Neo-Malthusianismus« der Verfasser können das Grundargument nicht widerlegen, daß Produktion und Bevölkerung auf einem endlichen Planeten nicht grenzenlos, nicht in beliebigem Tempo und zu beliebigen Quantitäten, anwachsen können, und daß auch dem Anwachsen des Energieverbrauchs auf dieser Erde klimatische Grenzen gesetzt sind. Die Konsequenz ist nicht, daß Erreichung der Produktionsgrenze allgemein vor der Tür steht und wir uns auf »Nullwachstum« umstellen müssen - das wäre schon deshalb absurd, weil ein Nullwachstum der Weltbevölkerung auf Jahrzehnte hinaus nicht erreichbar ist und Nullwachstum der Produktion bei wachsender Bevölkerung erzwungene verschärfte Verelendung der schnell anwachsenden Bevölkerung der armen Länder bedeuten würde - sondern daß wir trotz der Unvollkommenheit unserer Voraussicht versuchen müssen, die einigermaßen voraussehbaren Verknappungen von Rohstoffen und Energiequellen bei der Entscheidung darüber zu berücksichtigen, in welcher Richtung Wirtschaftswachstum und technischer Fortschritt unter den heutigen Bedingungen jeweils sinnvoll und wünschenswert sind.

Von der »Globalsteuerung« zur »Strukturpolitik«

Das heißt aber, daß diese Entscheidungen auf eine - wie immer unvollkommene - Voraussicht gegründet sein müssen, die weiter reicht als jene, die normalerweise den Marktentscheidungen zugrunde liegt. Die Schwierigkeiten der führenden kapitalistischen Länder, voran der Vereinigten Staaten, bei der Entwicklung von nicht sofort profitablen Alternativen zur Erdölproduktion sind ein schlagendes Beispiel für die Art von »Kurzsichtigkeit«, die profitorientierten Marktentscheidungen notwendig eignet. Ganz wie die Berücksichtigung der Umweltgefährdung durch industrielle Produktionsmethoden und Abfälle nur dadurch möglich ist, daß öffentliche Instanzen den privaten Verursachern die Kosten des öffentlichen Schadens auferlegen oder notfalls auch mit Geboten und Verboten in die Investitionsentscheidungen eingreifen, so erfordert die Berücksichtigung der Grenzen des Wachstums öffentliche Eingriffe, um langfristig sinnvolle Wachstumsrichtungen und Techniken zu begünstigen und langfristig schädliche zu hemmen oder zu verhindern. Es ist wünschenswert, daß solche Eingriffe wo irgend möglich mit den indirekten, »marktkonformen« Mitteln der Beeinflussung der Profitabilität der betroffenen Investitionsrichtungen durch Steuerpolitik, Aufträge usw. und nur ausnahmsweise auf direktem administrativem Wege erfolgen, um die noch immer vorhandene und wertvolle Flexibilität des Marktes so wenig wie möglich mit bürokratischen Methoden zu beeinträchtigen. Aber auch wenn die Verwendung vorwiegend marktkonformer Methoden gelingt, bleibt die Zunahme solcher »strukturpolitscher« Eingriffe in die Richtung der Investitionen ein grundsätzlicher Schritt über die Maßnahmen zur Stabilisierung ihres Umfangs durch Globalsteuerung hinaus. Was hier für das langfristige Überleben der Industriegesellschaften erforderlich wird, ist eine neue Stufe im Prozeß der Machtverschiebung zugunsten der öffentlichen, demokratischen Kontrolle auf Kosten der Eigengesetzlichkeit des kapitalistischen Verwertungsprozesses - ein Schritt vorwärts in sozialistischer Richtung.

Die Notwendigkeit internationaler Institutionen

Doch dieser Schritt kann nur in beschränktem Umfang wirksam im nationalstaatlichen Rahmen vollzogen werden. Die Förderung umweltfreundlicher oder rohstoffsparender Industrien und Produktionsmethoden, und die Verhinderung umweltschädlicher und rohstoffverschwendender, wird als einzelstaatliche Maßnahme nicht nur weltwirtschaftlich unwirksam bleiben - sie riskiert, durch den Druck der internationalen Konkurrenz oder durch das Ausweichen der multinationalen Konzerne auch für den einzelnen Staat selbst unwirksam zu werden, solange die strukturpolitischen Maßnahmen nicht international oder zum allermindesten regional koordiniert sind. Solche Koordination ist zwischen souveränen Staaten zwar im Prinzip möglich, aber wegen der Vielfalt der betroffenen Interessen und wegen der häufigen Verschiedenheit der Kräfteverhältnisse zwischen ihnen in verschiedenen Ländern normalerweise schwierig. Wir stoßen hier, ähnlich wie bei der Frage der Währungspolitik, auf ein institutionelles Problem - auf das Zurückbleiben der Entwicklung internationaler, und in der Tat supranationaler, Institutionen hinter der zunehmend weltweiten Natur der wirtschaftspolitischen Aufgaben. Die Schaffung solcher Institutionen wird mehr und mehr zur Bedingung der Bewältigung der neuen weltwirtschaftlichen Probleme - und insbesondere zur Bedingung des sozialistischen Fortschritts.

Der weltwirtschaftliche Verteilungskampf

Das gilt vor allem auch für die Bewältigung der Probleme, die aus der zunehmend akuten Auseinandersetzung zwischen den Rohstoffproduzenten und den totalen Habenichtsen der dritten und»vierten« Welt auf der einen und den entwickelten Industrieländern auf der anderen Seite entstehen. Seit der ersten Tagung der UNCTAD (United Nations Conference an Trade and Development). 1964 haben die Entwicklungsländer auf diesen Konferenzen und auf den Tagungen der »blockfreien« Nationen mit zunehmender Entschiedenheit darauf hingewiesen, daß jede positive Wirkung der Entwicklungshilfe jederzeit durch ein Absinken der Rohstoffpreise relativ zu den Preisen der Industrieprodukte zunichte gemacht werden kann; und so gewiß die Tendenz zu diesem relativen Absinken der Rohstoffpreise in der Zeit zwischen dem Korea- und dem Vietnam-Krieg nicht die Folge heimtückischer imperialistischer Manipulationen, sondern ein Produkt des Automatismus des Weltmarkts war, so gewiß sind die Klagen über die Wirkung auf die Existenzbedingungen der Entwicklungsländer vollauf berechtjgt gewesen. Seither hat sich in der Folge des Ölboykotts - und auf dem Hintergrund der Vorzeichen der Grenzen des Wachstums - die Tendenz der relativen Preisentwicklung zeitweise umgekehrt, zum Nachteil der Industrieländer, in denen die Ölkrise und anschließende Ölpreissteigerung auf dem Höhepunkt der Inflation den ernstesten Rückschlag seit 1932 auslöste, aber auch mit bitteren Folgen für die Habenichtse wie Indien und viele afrikanische Staaten; und das hat der Einsicht nachgeholfen, daß das Preisverhältnis zwischen Rohstoffen und Industriewaren für zu viele Menschen und Völker zu lebenswichtig ist, um auf die Dauer dem Automatismus des Marktes überlassen zu bleiben. Dies bleibt auch wahr, nachdem die Rohstoffpreise zum Teil wieder zu fallen begonnen haben.

Doch die Alternative zum Automatismus des Weltmarkts in der Preisbildung ist ein internationaler Mechanismus, der durch politische Übereinkunft zustande kommt; und das Finden einer Grundlage für solche Übereinkunft ist nicht nur objektiv schwer, wenn sie zugleich den vitalen Bedürfnisse aller Beteiligten gerecht werden und die flexible Anpassung an wechselnde Bedingungen ermöglichen soll, sondern ist auch unvermeidlich ein Gegenstand des Interessenkampfes zwischen Staatengruppen mit völlig verschiedenen Traditionen, Strukturen und Interessenlagen. So hat ein weltwirtschaftlicher Verteilungskampf zwischen den kapitalistischen Industrieländern und den Entwicklungsländern begonnen, aus dem die kommunistisch regierten Staaten sich als politische Nutznießer herauszuhalten suchen - und es liegt im Lebensinteresse der Industrieländer, diesen Konflikt durch einen langfristig tragfähigen Kompromiß zu beenden. Ein solcher Kompromiß könnte nicht in einem kaum durchführbaren System der Indexpreise auf dem Weltmarkt bestehen, wohl aber in einem von den Industrieländern finanzierten System der Stabilisierung der Rohstoffpreise durch internationale Vorratshaltung; doch die Aushandlung und Durchführung einer solchen Lösung erfordert politisch die Bereitschaft zu finanziellen Opfern und zur Preisgabe des Marktdogmatismus im Interesse des Friedens, der sozialen Gerechtigkeit und der weltwirtschaftlichen Stabilität, und organisatorisch die Bereitschaft erst zu einer gemeinsamen Verhandlungshaltung der Industrieländer und dann zur Schaffung einer übernationalen Institution der Vorratshaltung und Preisstabilisierung. Hier noch mehr als bei den anderen neuen Problemen der Weltwirtschaft ist eine Lösung, die eine stabile, demokratisch kontrollierte Entwicklung der Industrieländer sichert, nur mit Hilfe neuer internationaler oder supranationaler Institutionen möglich. Der gesellschaftliche Fortschritt in sozialistischer Richtung kann auf mehr und mehr wesentlichen Gebieten nicht mehr im nationalstaatlichen Maßstab erzielt werden.

lll. Zur Rolle der kommunistischen Mächte und Parteien

Keine »Dritte Kraft«

Das letzte Kapitel des Buches (Kap. 10) war das erste, das in seiner zentralen These - der Hoffnung auf die Entwicklung des demokratischen Westeuropas und des britischen Commonwealth zu einer sozialistischen »dritten Kraft« zwischen den beiden Supermächten - von den Ereignissen überholt wurde. Die volle totalitäre Gleichschaltung des sowjetischen Herrschaftsbereichs unter Vernichtung der dortigen demokratisch-sozialistischen Parteien, und der gleichzeitige Versuch Stalins, den demokratischen Wiederaufbau Westeuropas im Rahmen des Marshallplans mit Mitteln zu verhindern, die von der Blockade Berlins bis zur Entfesselung politischer Massenstreiks durch die westeuropäischen Kommunisten auf Anweisung des neugegründeten Kominform reichten, konfrontierten die westeuropäischen Sozialdemokraten mit der harten Alternative des Kalten Krieges: Die Behauptung ihrer Selbständigkeit und ihrer Zukunftschancen war nicht als dritte Kraft, sondern nur als linker Flügel einer von den Vereinigten Staaten geführten Gegenfront des Westens möglich. Tatsächlich haben sich alle westeuropäischen Sozialdemokraten mit der zeitweisen Ausnahme der italienischen Sozialisten in diesem Sinne entschieden; der konstruktive Charakter des Marshallplans selbst und die Tatsache, daß die USA nicht versuchten, gegen die westeuropäischen Länder mit verstaatlichten Grundindustrien und ganz oder halb sozialistischen Regierungen zu diskriminieren, hat ihnen diese Entscheidung erleichtert.

Die gleiche Polarisierung hat auch meine Schlußfolgerungen über das Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten (Kap. 9) modifiziert: Die Unterwerfung der westeuropäischen Kommunisten unter die antidemokratische Strategie des Kominform beendete auf lange Jahre die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zur Verteidigung der Demokratie in besonderen Fällen, die ich 1946 noch offengelassen hatte. Wer keine Wiederholung des Prager Staatsstreichs vom Februar 1948 in Westeuropa wollte, mußte nun überall den Kommunisten als Feinden der Freiheit entgegentreten. Eine Ausnahme wurde nur für die Beziehung zu den jugoslawischen Kommunisten nach ihrem Ausschluß aus dem Kominform und im Zeichen ihrer Bedrohung durch den Sowjetblock möglich: Sie waren zwar nicht zu Demokraten im westlichen Sinne geworden, aber hatten nun mit den westlichen Demokratien ein gemeinsames Interesse an der Behauptung ihrer nationalen Selbständigkeit gegen den Stalinschen Totalitarismus, und daher am machtpolitischen Gleichgewicht in Europa.

Die geteilte Welt

Dieses Gleichgewicht ist seither entlang den 1949 konsolidierten Grenzen, an denen sich die Militärbündnisse der NATO und des Warschauer Paktes gegenüberstehen, behauptet worden. Der Westen hat keine der Krisen des sowjetischen Imperiums in Osteuropa auszunutzen vermocht, um dessen Grenzen mit friedlichen Mitteln zurückzudrängen. Umgekehrt hat keine kommunistische Bewegung eines der demokratisch regierten Industrieländer zu erschüttern vermocht, auch nicht in Ländern mit kommunistischen Massenparteien oder während der wirtschaftlichen Krisen der 70er Jahre. Auch die Entwicklung der Sowjetunion zur Nuklear- und weiter zur Raketenmacht hat zwar die Berlinkrise von 1959 bis 1962 und ihre Kulmination in der kubanischen Raketenkrise ermöglicht, die hart an den Rand eines Nuklearkriegs führte, hat aber die territoriale Machtverteilung in den Industrieländern nicht verändern können. Die Entspannungspolitik seit 1969 hat diese faktische Stabilisierung der Machtverteilung in Europa registriert.

Demgegenüber hat der politische »Bewegungskrieg« zwischen Ost und West sich zunehmend auf die unterentwickelten Länder verlagert, beginnend mit dem historischen Sieg der Kommunisten in China 1949 und dem Koreakrieg der folgenden Jahre, und verallgemeinert als teils friedlicher, teils gewaltsamer Wettbewerb um diese Länder seit Stalins Tod. In Asien und Afrika insbesondere haben die Westmächte durch die Auflösung der alten Kolonialreiche gewaltige Machtverluste hinnehmen müssen, ohne daß dem auch nur annähernd vergleichbare Machtgewinne der Sowjets oder ihrer Verbündeten entsprochen hätten. Nur in Vietnam haben die Kommunisten die Führung einer antikolonialen Revolution errungen und behauptet, wie das nach der kommunistischen Theorie allgemein der Fall sein müßte, und nur in Kuba ist ihnen die Macht durch »Bekehrung« des Führers einer ursprünglich nichtkommunistischen Bewegung zugefallen. Bis heute stehen einer Minderheit von Entwicklungsländern, die stark von kommunistischen Entwicklungsmodellen beeinflußt sind, eine große Mehrheit gegenüber, die mit mehr oder weniger Erfolg»kapitalistische« oder häufiger eigene, mit gemischten Wirtschaftssystemen arbeitende Wege gehen. Doch die Schwierigkeit des Entwicklungsproblems hat es mit sich gebracht, daß in der »Dritten Welt«kaum eine der demokratischen Verfassungen überlebt hat, die von vielen Staaten im Zuge der Entkolonisierung adoptiert wurden; und die ökonomischen Konflikte zwischen Schuldner- und Gläubigerländern, und zwischen Rohstoff- und Industrieländern, haben in den letzten Jahren viele nichtkommunistische Entwicklungsländer zu einer zunehmend antiwestlichen Haltung veranlaßt, die den diplomatischen Aktionsspielraum des Westens einschränkt und den der Sowjets erweitert. Insofern besteht zur Zeit ein Widerspruch zwischen der trotz krisenhafter Erschütterungen erwiesenen Stabilität und Entwicklungsfähigkeit der westlich-demokratischen Industrieländer im eigenen Bereich, und ihrer zunehmenden Isolierung auf Grund des Verlustes an Ausstrahlungskraft der westlichen ökonomischen und politischen Modelle, und zunehmend auch der westlichen Werte, auf die »Dritte Welt«.

Die Sowjetunion nach Stalin

Die Teilung der industriell entwickelten Welt in zwei Machtblöcke, die gleichzeitig in einem Machtkonflikt und einem Systemgegensatz stehen, ist auch durch die zwei bedeutsamen Veränderungen nicht aufgehoben worden, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten im kommunistisch regierten Teil der Welt vollzogen haben: die nach-Stalinschen Systemveränderungen in der Sowjetunion und die Herausbildung eines kommunistischen Pluralismus auf Grund des sowjetisch-chinesischen Konflikts. Das Ende von Stalins persönlichem Despotismus hat in der Sowjetunion zu einer Wiederherstellung der Institutionen der Einparteiherrschaft geführt. Die Reformen der Chruschtschew- und Nach-Chruschtschew-Zeit haben die Staatssklaverei als Massenerscheinung und besonderen volkswirtschaftlichen Sektor beendet, die Arbeitsbedingungen einigermaßen den Erfordernissen eines entwickelten Industrielandes angepaßt und erste Schritte zur Hebung der jahrzehntelang ausgepowerten und noch immer rückständigen Landwirtschaft gebracht. Der Lebensstandard der Massen hat sich so, verglichen mit Stalins Zeiten, in erheblichem, wenn auch noch immer ungenügendem Maße verbessert; und zugleich hat die Führung aufgehört, die Annäherung an das Fernziel der klassenlosen Gesellschaft - die »höhere Stufe des Kommunismus« - durch immer neue gewaltsame Umwälzungen der Gesellschaftsstruktur zu betreiben, die immer wieder Leben und Freiheit ganzer gesellschaftlicher Kategorien bedrohten. Anstelle dieser totalitären Dynamik der »Revolutionen von oben« ist jedoch nicht ein System getreten, das den gesellschaftlichen Gruppen den freien, organisierten Ausdruck ihrer Bedürfnisse ermöglicht, sondern eine auf die Partei- und Staatsbürokratie gestützte Oligarchie, die neben dem Bemühen um Hebung der Produktion und des Lebensstandards einerseits, die Erweiterung der nationalen Machtstellung andrerseits vor allem konservativ um die Bewahrung der eigenen Monopolmacht als Vormund der Gesellschaft kämpft. Von einer Bereitschaft zur Tolerierung von Strömungen, die zu einer»Konvergenz«mit demokratischen Institutionen führen könnten, ist nichts zu erkennen, wie die Intervention von 1968 in der Tschechoslowakei und die Behandlung der intellektuellen Dissidenten in Rußland selbst gezeigt haben. Auch die ideologische Polemik, die im Rahmen des sowjetisch-chinesischen Konflikts von der sowjetischen Führung gegen den »Personenkult« um Mao Tse-tung und den revolutionären Dogmatismus der chinesischen Führung gerichtet wurde, tendierte zur Verteidigung der institutionellen Stabilität des Einparteistaates, nicht zur Konvergenz mit demokratischen Einrichtungen.

Das Ende des »Weltkommunismus«

Die wirkliche weltpolitische Bedeutung des sowjetisch-chinesischen Konflikts liegt vielmehr in der Tatsache, daß der im Westen häufig gebrauchte Begriff des »Weltkommunismus« seine operative Bedeutung verloren hat. 6 Es hat sich gezeigt, daß die im Ursprung gemeinsame, aber im Verlauf des Konflikts differenzierte kommunistische Ideologie keine Garantie der Überbrückung von Interessenkonflikten zweier Großmächte bietet, sondern daß Ideologisierung solche Konflikte eher verschärft; so gewiß eine relative Entspannung des Verhältnisses zwischen Peking und Moskau nach Mao Tse-tungs Tode möglich ist, so gewiß ist eine Rückkehr zur früheren Einheit des»Weltkommunismus« mit Moskau als Zentrum ausgeschlossen. Denn die ideologische Divergenz der beiden kommunistischen Hauptmächte über weltrevolutionäre Strategie und Methoden des»sozialistischen Aufbaus« ist aus primär außenpolitischen Konflikten um die nach Pekings Meinung unzureichende wirtschaftliche, diplomatische und militärische Hilfe Moskaus entstanden, und hat im Laufe der Jahre 1958 - 1964 zur endgültigen Loslösung Chinas als unabhängige Großmacht von jeder sowjetischen Führungsrolle geführt; und diese Loslösung, die historisch den Abschluß des jahrzehntelangen chinesischen Kampfes um die Wiedererlangung der nationalen Unabhängigkeit bildet, kann auch nicht rückgängig gemacht werden, wenn die ideologischen Differenzen in der Zeit nach Mao an Bedeutung wieder verlieren sollten.

Einstweilen hat die im Konflikt entwickelte maoistische Doktrin der »ununterbrochenen Revolution«für die innere Entwicklung Chinas nicht minder bedeutsame Wirkungen gehabt als für seine internationale Rolle. Insofern Mao Tse-tungs Modell der nichtkapitalistischen Industrialisierung und Modernisierung den Stalinschen absoluten Primat der Schwerindustrie verwirft und die Förderung der Landwirtschaft und der Produktion von Gütern des Massenverbrauchs stärker betont, hat es die Konsumopfer der chinesischen Massen um den Preis einer verlangsamten Industrialisierung verringert. Insofern es die materiellen Anreize der Einkommensdifferenzierung in der Theorie zugunsten kollektiver, moralischer Anreize ablehnt und in der Praxis nur unter Schwankungen und als Konzession zuläßt, und insofern es in der Erziehung die fachliche Ausbildung zugunsten der Ideologie zurückdrängt, gefährdet es die Herausbildung unentbehrlicher fachlicher Kader und verlangsamt damit die Modernisierung. Zugleich haben die inneren Kämpfe um die Durchsetzung dieses Modells in Partei-, Staats- und Armeeführung die Kontinuität des Parteiregimes in wiederholten schweren Krisen erschüttert, in denen es bald um die Erhebung Maos zum Alleinherrscher auf Kosten der Institutionen des Regimes und mit Hilfe der Armee, bald um die Wiederherstellung der Institutionen unter Zurückdrängung Maos, und schließlich um die Vorbereitung seiner Nachfolge ging, und der Ausgang ist noch ungewiß. International hat Peking die zunächst beanspruchte Führerrolle einer Welle von revolutionären Befreiungsbewegungen in der »Dritten Welt«nicht verwirklichen können, teils weil es das Potential solcher Bewegungen überschätzt hatte, teils weil es so wenig wie Moskau in der Praxis bereit war, die Sicherheit des eigenen Regimes um der Weltrevolution willen aufs Spiel zu setzen. Übriggeblieben ist ein rhetorischer Anspruch auf Führung der Dritten Welt gegen die »Hegemonialpolitik« der Supermächte USA und USSR, wobei seit der sowjetischen Invasion der Tschechoslowakei die Sowjetunion zunächst als Hauptgefahr eingeschätzt und eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA ohne ideologische Konzessionen angestrebt wurde.

Die amerikanische Politik hat sich an die Tatsache der Pluralität der kommunistischen Mächte nur mit großen Widerständen und Umwegen angepaßt: Sie hat zunächst dazu tendiert, China auf Grund seiner revolutionären Rhetorik als die Hauptgefahr für die internationale Stabilität und den Vietnamkrieg als ein Produkt chinesischer Strategie anzusehen, und hat sich nicht zuletzt darum in dem Versuch festgerannt, diesen angeblichen Testfall chinesischer revolutionärer Expansion zum Scheitern zu bringen. 7 Erst ein bitterer und kostspieliger Lernprozeß hat Washington erlaubt, zugleich mit dem Entschluß zum Disengagement aus Vietnam erste Schritte zu einer Normalisierung mit Peking einzuleiten, um so eine bessere Basis für Entspannungsverhandlungen mit Moskau zu gewinnen.

Sinn und Grenzen der »Entspannung«

Bei dieser amerikanisch-sowjetischen Entspannung kann es nach dem Gesagten ebenso wie bei der deutsch-sowjetischen nicht um eine schrittweise Beendigung des Weltkonflikts der Systeme auf Grund von Hoffnung auf »Konvergenz« oder »Wandel durch Annäherung« gehen: Ein solcher Wandel mag eines Tages eintreten, aber es liegt nicht in der Macht des Westens, ihn mit diplomatischen Mitteln herbeizuführen. Die wirkliche Grundlage für Entspannungsverhandlungen ist einmal das gemeinsame Interesse am Überleben, also an der Vermeidung eines Nuklearkrieges, das von beiden Seiten schon Mitte der fünfziger Jahre grundsätzlich anerkannt wurde und mit der Entwicklung der Raketenwaffen immer wichtiger geworden ist - also ein Interesse an der Kontrolle der Formen des Konflikts durch Versuchsstopps, Nictweiterverbreitungsvertrag und die Maschinerie des »Krisenmanagements«. Es ist zweitens die Erwartung, daß eine im Inneren konservativ gewordene und von den außenpolitischen Früchten der »Weltrevolution« enttäuschte Sowjetunion zwar nicht machtpolitisch saturiert wird (sie wird nach wie vor versuchen, Schwächen des Westens zu nutzen), aber nicht aktiv an spezifisch revolutionärer Expansion interessiert ist. Es ist drittens die Überzeugung, daß in Regionen, wo sich ein für beide Supermächte erträglicher Status quo herausgebildet hat, wie im Herzen Europas, ein gemeinsames Interesse an der Regelung regionaler Teilkonflikte besteht. Und es ist viertens die Kalkulation, daß angesichts der enormen Kosten und Risiken des Wettrüstens der ernsthafte Versuch gemacht werden muß, zu vereinbarten Rüstungsbegrenzungen sowohl für nukleare wie für konventionelle Waffen zu kommen - so schwierig gerade solche Vereinbarungen sind. All dies sind Möglichkeiten, den Macht- und Systemkonflikt zu beschränken und zu kontrollieren - auch während die Teilung der Welt in machtpolitische und ideologische Blöcke fortbesteht.

Kommunistische Wandlungen in Westeuropa

Die pluralistische Aufsplitterung des »Weltkommunismus« hat jedoch auch eine wichtige Wirkung in der westlichen Welt gehabt. Die Erschütterung der ideologischen Autorität der sowjetischen Führung erst durch die Entstalinisierung und dann durch den chinesisch-sowjetischen Konflikt hat es grundsätzlich für kommunistische Parteien außerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereichs möglich gemacht, sich zunehmend von dieser Autorität zu emanzipieren und autonome theoretische und strategische Vorstellungen zu entwickeln; und einige starke westeuropäische Parteien, die seit langem unter dem Mißverhältnis zwischen der Stärke ihres Anhangs und ihrer effektiven Unwirksamkeit auf Grund ihrer Isolierung in einem demokratischen politischen Milieu ohne revolutionäre Chancen litten, haben von dieser Möglichkeit zunehmend Gebrauch gemacht. Die kommunistische Partei Italiens insbesondere - und ihr folgend die bis vor kurzem noch illegal arbeitende KP Spaniens - hat seit der Entstalinisierung immer deutlicher gemacht, daß sie an der historischen Bedeutung der Oktoberrevolution und der grundsätzlichen Solidarität mit dem Sowjetstaat festhält, aber die Herrschaftssysteme Rußlands und Osteuropas als rückständige Formen des Sozialismus ansieht und für Westeuropa einen Übergang zum Sozialismus in freiheitlichen, in westlichem Sinne demokratischen Formen anstrebt. Sie hat den »Prager Frühling« begrüßt und seine Unterdrückung durch sowjetische Intervention hart und konsequent verurteilt; sie hat gegen Unterdrückung der kulturellen Freiheit im Sowjetblock immer wieder protestiert; sie hat die Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bejaht und das Ziel ihrer Demokratisierung aufgestellt, als die Sowjetunion und die französischen Kommunisten noch eine völlig negative Haltung zu ihr einnahmen; sie hat sich schließlich zur Verhinderung eines einseitigen sowjetischen Übergewichts in Europa bekannt und es abgelehnt, den Austritt Italiens aus der NATO zu fordern, solange Europa zwischen zwei feindlichen Bündnissystemen geteilt ist. Sie verfolgt mit dieser Strategie das Ziel, im Rahmen einer breiten Koalition demokratischer Parteien an die Regierungsmacht zu kommen, und sie hat sich seit Jahren bereit erklärt, auch als Teilhaber der Macht alle demokratischen Freiheitsrechte und insbesondere das Recht auf organisierte politische Opposition voll zu respektieren und im Falle einer Wahlniederlage wieder von der Regierung abzutreten. Sie hat aus dem Sturz Allendes in Chile den Schluß gezogen, daß soziale Umwälzungen auf demokratischem Wege nur mit einer breiten Mehrheit möglich sind, und hat die Versuche der portugiesischen Kommunisten zur Einschränkung der Meinungsfreiheit verurteilt, bevor sie gescheitert waren.

Die kommunistische Partei Frankreichs hat sich in ähnlicher Richtung wesentlich weniger konsequent und erst in den letzten Jahren im Zusammenhang ihrer Wahlabkommen mit den französischen Sozialisten - und ihrer Stimmenverluste zu deren Gunsten - entwickelt. So hält sie auch heute noch an ihrer scharfen Ablehnung der NATO und an ihrer nationalistischen Propaganda gegen die Europäische Gemeinschaft fest. Aber auch sie hat immer häufiger sowjetische blockpolitische und innerpolitische Maßnahmen kritisiert, weil sie die Freiheitsrechte verletzten, und hat sich seit dem November 1975 eindeutig zur Anerkennung der Freiheitsrechte, einschließlich des Rechts auf Opposition und auf demokratische Ablösung einer von ihr mitgebildeten Regierung, bekannt. Mit dieser Wendung hat sie dazu beigetragen, die KPdSU und die Ostblockparteien zur Annahme der zuerst von den Italienern und Spaniern, gemeinsam mit den Jugoslawen und Rumänen, vorgetragenen Forderung nach Anerkennung der vollen strategischen Autonomie der westeuropäischen kommunistischen Parteien und zum Verzicht auf die Durchsetzung von Formulierungen über die Führerstellung Moskaus und von gemeinsamen strategischen Grundsatzformeln auf der europäischen Kommunistenkonferenz im Juni 1976 zu zwingen.

Den Hintergrund dieses Wandels gerade der am stärksten in den Volksmassen ihrer Länder verankerten kommunistischen Parteien des Westens bildet der langfristige Prozeß der verspäteten, aber fortschreitenden Integration der Arbeiterklassen Lateineuropas in dessen demokratische Systeme, nicht nur auf Grund des Ausbleibens revolutionärer Situationen, sondern auf Grund der positiven wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des demokratisch kontrollierten Kapitalismus in Westeuropa. Die Anpassung an diesen Prozeß ist eindeutig mehr als nur taktisch, wo sie in zunehmend offener innerparteilicher Diskussion erfolgt und die Parteien somit auch gegenüber den eigenen Kadern bindet, wie das insbesondere in Italien der Fall ist. Wo der Wandel soweit gediehen ist, liegt es nicht mehr im Interesse einer stabilen Demokratie, die Isolierung einer so gewandelten kommunistischen Partei vom demokratischen Prozeß aufrechtzuerhalten - es liegt im Gegenteil im Interesse des sozialen Fortschritts, sie einzuschalten. Ein ähnlich weitgehender Wandel scheint mir im Augenblick dieser Niederschrift für Frankreich noch nicht gesichert, aber als Ergebnis eines weiteren Reifeprozesses immerhin möglich. Wenn diese Entwicklung sich fortsetzt, kann sie zu einer entscheidenden Schwächung des antidemokratischen Potentials der Kommunisten in Westeuropa, vielleicht sogar zu späteren Rückwirkungen auf Osteuropa führen. Doch sie rechtfertigt keine veränderte Haltung der demokratischen Sozialisten zu den kommunistischen Parteien oder Sekten, die sich unter dem Einfluß des Moskauer Dogmas auch weiterhin jedem Wandel widersetzen - wie die Kommunisten beider Teile Deutschlands.

IV. Eine Krise der westlichen Zivilisation?

Die Jugendrevolte als Ausdruck einer Kulturkrise

Während die Integration der industriellen Arbeiterschaft in das politische System der westlichen Demokratien im Zeichen des wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs der vergangenen Jahrzehnte stetige Fortschritte machte - in vielen Ländern durch die Durchsetzung der Sozialdemokratie auf Kosten der zur Sekte schrumpfenden Kommunisten, in anderen durch den inneren Wandel der verbleibenden kommunistischen Massenparteien -, wurde in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre plötzlich eine Abwendung großer Teile der intellektuellen Jugend des Westens von diesem System sichtbar, die teils die dramatische Form der internationalen Studentenrevolte, teils die Form des passiven Rückzugs aus der Gesellschaft in die Subkultur der Hippies oder auch den Drogenkult annahm. Die Erwartung Herbert Marcuses, hier kündige sich ein neues revolutionäres Potential an - eine neue Trägerschicht, die gemeinsam mit den revolutionären Bewegungen der Dritten Welt die vom Industrieproletariat aufgegebene revolutionäre Mission übernehmen werde -, erwies sich freilich als ebenso unreal und vorübergehend wie die »Machtergreifung der Phantasie« an der Pariser Sorbonne im Mai 1968. Nicht vorübergehend war jedoch der Wandel in den Loyalitäten und kulturellen Werthaltungen eines wichtigen Teils der heranwachsenden Generation, der sich vor dem gewaltsamen Ausbruch im stillen vorbereitet hatte und nach dessen Abklingen tiefe Spuren nicht nur in ihren eigenen Lebensformen, sondern in der öffentlichen Diskussion hinterlassen hat - im Widerstand gegen »Konsumzwang« und Leistungsprinzip, in der Erschütterung nicht nur von traditioneller Autorität, sondern von Fach- und Amtsautorität, im häufigen Verlust von geschichtlicher Kontinuität und nationaler Identität, aber auch in neuen Erziehungsexperimenten, neuen Vorstellungen von »direkter« oder »partizipatorischer« Demokratie und neuen Deutungen der Gleichheitsidee.

Ich gehöre zu denen, die schon früh in diesem »Bewußtseinswandel« den Ausdruck einer nicht primär politischen, sondern kulturellen Krise gesehen haben - einer Krise unserer westlichen Zivilisation. Damit erhebt sich aber die Frage nach den Ursachen dieser Krise. Habermas sieht in ihr die Konsequenz des unerbittlichen Abbaus traditioneller und frühbürgerlicher Kulturbestände durch die kapitalistische Dynamik und der Durchsetzung einer normativen Logik, die keine »nicht verallgemeinerungsfähigen Interessen«, wie immer verkleidet, mehr anerkennt. 8 Schelsky sieht vor allem die Entstehung einer utopischen Diesseitsreligion zur Füllung der durch die Säkularisierung gerissenen Lücke in den Leitideen, an denen sich das Sozialverhalten orientieren kann. 9 Daniel Beil sieht einen, zunächst in der modernen Kunst vorweggenommenen, Durchbruch eines schrankenlosen individualistischen Hedonismus ins Leben auf dem Hintergrund des Verlustes der religiösen Sanktionen der Arbeits- und Pflichtethik und der religiösen Hoffnung auf Unsterblichkeit einerseits, der Herausbildung der neuen Lebensformen der Konsumgesellschaft unter dem Einfluß der kapitalistischen Dynamik andrerseits. 11/12

Der Verlust des Fortschrittsglaubens

Demgegenüber habe ich hervorgehoben, daß Säkularisierung und Modernisierung im Westen nicht zu einem Massenerlebnis des Sinnverlustes, wie es den Kulturkrisen unserer Zeit offenbar zugrundeliegt, geführt hatten, solange der weltliche Glaube an einen sinnvollen Geschichtsprozeß, an einen - geradlinigen oder sprunghaft-dialektischen - Fortschritt im Sinne der Grundwerte der westlichen Zivilisation intakt war: der Glaube an einen im Geschichtsverlauf angelegten Fortschritt zu einer zunehmend »rationalen« Ordnung, zunehmenden Rechten des Individuums, zunehmend universellen Gemeinschaften. Ich habe schon in der Faschismusanalyse des vorliegenden Buches (Kap. 5) den zerstörenden Ausbruch des Nationalsozialismus als eine erste Form der Kulturkrise des Sinnverlustes beschrieben, die durch die Erschütterung des Glaubens an die westlichen Werte in dem von den Folgen des Ersten Weltkriegs und von der Weltwirtschaftskrise am tiefsten betroffenen westlichen Land hervorgerufen wurde und ihrerseits zu einer weltweiten Erschütterung des Fortschrittsglaubens geführt hat. Seither haben das volle Bekanntwerden zuerst der nationalsozialistischen und dann der Stalinschen Greuel nach dem Zweiten Weltkrieg die verschiedenen Versionen des Glaubens an einen sinnvollen Geschichtsprozeß erneut mit der »Irrationalität« der Wirklichkeit konfrontiert; und die Nachkriegsgeneration des Westens ist zwar in einer Gesellschaft aufgewachsen, die den Nationalsozialismus überwunden, den Stalinismus zum Stehen gebracht und die unmittelbaren Probleme der wirtschaftlichen Stabilität und der innerwestlichen internationalen Zusammenarbeit unvergleichlich besser gelöst hatte, als die der Zwischenkriegszeit - aber auch in einer geteilten Welt und unter der ständigen Drohung der totalen Zerstörung durch den Atomkrieg. So hat sie trotz erfolgreicher Überwindung des akuten nationalsozialistischen Aufstands gegen den Westen nicht die gleiche sichere Verankerung in den westlichen Grundwerten gewinnen können wie ihre Vorgänger, und hat erst recht ihren Nachfolgern in einer immer rascher sich verändernden Welt nicht die gleiche Gewißheit vermitteln können. Unter diesen Umständen aber hat das Eingreifen der Vereinigten Staaten im Vietnamkrieg und die Unglaubhaftigkeit seiner Begründungen für diese Nachfolger, die zweite Nachkriegsgeneration, als Auslöser einer zweiten, diesmal internationalen Krise des Sinnverlustes gewirkt; und das Bewußtwerden des Anwachsens der Destruktivkräfte - der Umweltzerstörung und Rohstofferschöpfung - mit der zunehmenden Entfesselung der industriellen Produktivkräfte hat ebenso wie die neuen Krisenerscheinungen der frühen siebziger Jahre dazu beigetragen, die Tendenz zur Abwendung vom westlichen System - nicht nur vom ökonomischen, sondern auch vom politischen System - und die Neigung zu utopischen Lösungen in wichtigen Gruppen dieser Generation auch über den akuten Ausbruch hinaus am Leben zu erhalten.

Dabei ist dies Phänomen der »Entfremdung« von der parlamentarischen Demokratie und von dem liberalen Aspekt der westlichen Werte nicht nur generationsspezifisch, sondern auch in hohem Maße sektorspezifisch. Es konzentriert sich, über die studentische Jugend hinaus, auf jene»postindustriellen«Berufsgruppen, die in ihrer Alltagserfahrung von der materiellen Produktion, aber auch vom Waren- und Geldverkehr relativ entfernt und - als Lehrer und Erzieher, als Publizisten und Autoren oder als Sozialbetreuer aller Art - mit der »Vermittlung von Sinn« befaßt sind: Sie empfinden aus ihrer beruflichen Situation heraus den Mangel eines glaubhaften Sinns im gesellschaftlichen Alltag und das Bedürfnis nach einer ihn transzendierenden, utopischen Sinngebung besonders stark.

Die Ursachen des »Sinnverlusts«

Nun gibt es, wie ich glaube, eine gemeinsame Ursache aller derartiger Kulturkrisen einer dynamischen Gesellschaft: Sie entstehen, wenn die konkrete Interpretation der grundlegenden Werte einer Zivilisation und die auf sie gegründeten Verhaltensnormen und Institutionen dem Wandel der tatsächlichen Gesellschaftsstrukturen und Lebensformen nicht rechtzeitig und wirksam angepaßt werden, so daß die Werte selbst ihre Glaubwürdigkeit verlieren und eine Stimmung unerträglicher Anomie, eine Verzweiflung an der Sinn- und Normenlosigkeit sich ausbreitet, aus der die Menschen sich in die Utopie flüchten. Das war die Lage in der großen europäischen Kulturkrise der Renaissance und der vorreformatorischen Bewegungen. So müssen wir aus den wiederkehrenden Kulturkrisen der Gegenwart schließen, daß auch in unserer Zeit die Anpassung der Normen und Institutionen an die stetig beschleunigte Veränderung der Lebensbedingungen trotz aller Teilerfolge mit den Erfordernissen glaubhafter Wertkontinuität nicht Schritt gehalten hat - und daß Verzweiflung und utopische Fluchterscheinungen erst in dem Maße verschwinden werden, wie eine »reformatorische« Neuordnung der Normen und Institutionen auf der Grundlage der westlichen Werte, aber auf dem Niveau der heutigen Bedingungen im Großen gelingt. Nach der Widerlegung des Glaubens an eine gesetzmäßige Automatik des Fortschritts durch die Katastrophen unseres Jahrhunderts kann der Glaube an einen geschichtlichen Sinn unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens nur gerettet werden, soweit unsere Aktion ihm diesen Sinn zu geben vermag. In diesem Zusammenhang ist die Abkehr vieler der Rebellen der späten sechziger Jahre von einem destruktiven, antidemokratischen Gewaltkult und ihre Hinwendung zu dem Versuch, den Kampf um ihre Ziele mit demokratischen Mitteln und im Rahmen großer demokratischer Parteien zu führen, wie das neben der Bundesrepublik auch in den USA und Frankreich geschehen ist, auch dann ermutigend, wenn diese Ziele zunächst noch mehr oder weniger utopischen Charakter tragen. Damit aber wird auch die Frage nach dem möglichen Inhalt der westlichen Idee des Sozialismus in unserer Zeit neu gestellt.

V. Die sozialistische Idee heute

Aspekte des sozialistischen Ziels

Die sozialistische Idee zielt in allen ihren Formen auf die Überwindung der Klassengesellschaft, in ihren modernen Formen spezifisch auf die Überwindung der kapitalistischen Klassengesellschaft. In der Konkretisierung dieses Ziels haben in verschiedenen geschichtlichen Phasen, sozialistischen Richtungen und Ländern verschiedene Aspekte im Vordergrund gestanden - etwa die Befreiung des Wirtschaftens vom privaten Profitantrieb und des Arbeiters von der Lohnabhängigkeit; die Gleichheit der individuellen Entfaltungschancen in Erziehung und Erwerb; die soziale Sicherheit für alle durch Überwindung von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftskrisen. Neuerdings sind die Sicherung des Überlebens der Menschheit durch Verhinderung von Umweltzerstörung und Rohstofferschöpfung und die Verbesserung der»Lebensqualität« durch Förderung von Gemeinschaftsgütern anstelle der ausschließlichen Konzentration auf den individuellen Konsum in den Vordergrund getreten.

Weitgehende Einigkeit besteht aber unter Sozialisten darüber, daß die Verwirklichung all dieser Aspekte des Ziels in erster Linie von einem strategisch entscheidenden Mittel abhängt - dem Mittel, das bei Marx die »Vergesellschaftung der Produktionsmittel« heißt, und das wir heute als demokratische Kontrolle von Tempo und Richtung der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung beschreiben können. Ich habe im Kapitel 7 der vorliegenden Schrift schon meine Gründe angeführt, warum Verstaatlichung der Produktionsmittel nicht generell eine notwendige Bedingung der Vergesellschaftung ist - es gibt andere Formen wirksamer gesellschaftlicher Übernahme der Verfügungsmacht - noch für sich allein jemals eine hinreichende Bedingung sein kann - nur der demokratische Staat kann als Instrument gesellschaftlicher Kontrolle und Verfügung bezeichnet werden. Von »demokratischer Kontrolle der wirtschaftlichen Gesamtentwicklung«statt von »Vergesellschaftung der Produktionsmittel« zu sprechen, heißt daher nicht, die Anforderungen an eine sozialistische Ordnung herabzusetzen.

Kein Vorbildsstaat...

Im Gegenteil: Die Anwendung dieses Kriteriums zeigt sofort, daß es auch heute noch keinen Staat gibt, der im Ernst als sozialistisch bezeichnet werden kann. Die kommunistisch regierten Staaten, die sich so nennen, haben keine demokratischen Institutionen wirksamer gesellschaftlicher Kontrolle: In keiner von ihnen hat das Volk die Freiheit der Entscheidung zwischen alternativen Führungen, Programmen oder Entwicklungsplänen, weil das Entscheidungsmonopol der herrschenden Partei und das Initiativmonopol der Führung innerhalb dieser Partei unantastbar sind. In der Sowjetunion und im Sowjetblock gibt es auch keine beschränkte Freiheit der Austragung von Interessenkonflikten, wie sie in Jugoslawien immerhin institutionalisiert ist, und keine Bekämpfung der Klassenprivilegien der Bürokratie, wie sie in China immer wieder versucht wird. Es wäre auch ganz falsch, die durch Errichtung und Zerfall von Mao Tse-tungs persönlichem Regime bedingte Instabilität der politischen Institutionen in China und die dortigen erbitterten Cliquenkämpfe in der »politischen Wolkenregion« mit demokratischen Ansätzen zu einer systematischen Beteiligung der Massen an den Entscheidungen zu verwechseln. Nur in der Tschechoslowakei 1968 hat eine kommunistische Führung den Versuch gewagt, durch Wiederherstellung echter Diskussionsfreiheit ihre Privilegien aufs Spiel zu setzen und somit Staat und Gesellschaft in sozialistischer Richtung zu verändern - und dieser Versuch ist an der militärischen Intervention der»sozialistischen« Staaten des Warschauer Paktes gegen die angebliche »Konterrevolution«gescheitert.

...aber demokratischer Fortschritt in sozialistischer Richtung

Die demokratischen Industriestaaten des Westens und Japan mit ihren gemischten Wirtschaftssystemen auf der Grundlage vorwiegend kapitalistischen Eigentums erheben nicht den Anspruch, »sozialistisch« zu sein - auch da nicht, wo sie von Sozialdemokraten regiert werden. Wohl aber haben diese Staaten, wie wir sahen, mit demokratischen Mitteln seit langem Maßnahmen der wirtschaftlichen »Globalsteuerung«verwirklicht, die über den Kapitalismus hinaus in sozialistische Richtung weisen. Dabei ist die - überall noch höchst unvollkommene - Wirksamkeit dieser Steuerung von Land zu Land verschieden; sie hängt auch weniger, als ich noch 1946 glaubte, von der rechtlichen Verstaatlichung einzelner»Schlüsselindustrien« und stärker von der Zielsicherheit und Kontinuität der politischen Führung und der Qualität des bürokratischen Fachpersonals ab. (So habe ich nach meiner heutigen Einschätzung die grundsätzliche Bedeutung der ersten englischen Labour-Regierung nach dem Kriege als Beginn einer sozialistischen Entwicklung überschätzt - nicht nur, weil seither solche Regierungen mit konservativen Regierungen abwechselten, was ich voraussah, sondern auch weil die Steuerungspolitik dieser Regierungen oft weniger erfolgreich war als etwa die Planung gemischter oder nichtsozialistischer Regierungen in Frankreich; dabei hat sich das lange, unrealistische Festhalten an einer nationalen Sonderstellung Englands gegenüber Europa einerseits, an einer weltwirtschaftlichen Sonderrolle der Sterlingwährung andrerseits besonders schädlich ausgewirkt). Das Wesentliche ist, daß der Übergang zum demokratisch gesteuerten Kapitalismus mit dem Ziel der Vollbeschäftigung und des stetigen Wachstums allgemein unter dem Druck der demokratischen Arbeiterbewegung erfolgt ist, ob diese nun gerade in der Regierung vertreten war oder nicht, und allgemein eine neue, auch bei Regierungswechsel nicht mehr rückgängig zu machende Entwicklungsstufe des Kapitalismus einleitet, die objektiv einen Schritt seiner Umwandlung in sozialistischer Richtung darstellt.

Der Fortschritt in dieser Richtung war in den vergangenen Jahrzehnten kaum von weiteren Verstaatlichungen nach Beendigung der unmittelbaren Nachkriegsphase, wohl aber - vor allem in den Ländern mit sozialdemokratisch geführten Regierungen - von erheblichen Verbesserungen der sozialen Sicherheit durch konjunkturpolitische und sozialstaatliche Maßnahmen, der Chancengleichheit durch Reform des Erziehungswesens und teilweise durch steuerliche Umverteilung, und von verstärkter Förderung solcher Gemeinschaftsaufgaben wie Gesundheitswesen, Umweltschutz, Wissenschaftsförderung und wiederum des Erziehungswesens gekennzeichnet. Dabei ist nicht die Förderung von Gemeinschaftsaufgaben selbst, aber das Bewußtsein, daß in ihrer Betonung auf Kosten der Jagd nach marginalen Zuwächsen des individuellen Konsums ein Merkmal der sozialistischen Entwicklungseinrichtung liegt, ein neues Element sozialistischer Politik.

Das Problem der Demokratisierung

Ein noch zentraleres neues Element sind alle jene Vorstellungen von erweiterter Partizipation und Mitbestimmung der arbeitenden Menschen, die neuerdings von der deutschen Sozialdemokratie unter dem Schlagwort der »Demokratisierung gesellschaftlicher Bereiche« zusammengefaßt worden sind. 13 Ein Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die wachsende Enttäuschung an den Ergebnissen der Verstaatlichung von Industrien oder einzelnen Konzernen. für ihre Arbeiter und Angestellten - nicht nur in den kommunistischen Diktaturstaaten, sondern auch in den westlichen Demokratien - und die zunehmende Erkenntnis, daß Verstaatlichung als solche nicht ein Wesensmerkmal sozialistischer Zielsetzung, sondern nur eines der möglichen Mittel für die wirksame Unterwerfung der Monopole und Quasimonopole unter demokratische Kontrolle ist. Ein anderer Ausgangspunkt war die in der Studentenrevolte durchbrechende Entfremdung weiter Teile der jungen Generation von den bürokratischen Regierungsmethoden der parlamentarischen Demokratie und die damit verbundene Forderung nach einer Delegierung weiter Bereiche von Entscheidungen an die »unmittelbar Betroffenen«. Soweit hier »rätedemokratische« Vorstellungen auftauchten, nach denen funktionale Institutionen der Gesamtgesellschaft in wichtigen Bereichen der Alleinentscheidung ihrer Angehörigen ohne Rücksicht auf den gesamtgesellschaftlichen Auftrag überlassen werden sollten, oder ein Verzicht auf die individuelle exekutive Verantwortung fachlich qualifizierter Funktionsträger im Rahmen dieses Auftrags zur Beseitigung »autoritärer Strukturen« notwendig wäre, sind sie von den großen sozialdemokratischen Parteien nach heftigen Diskussionen schließlich überall zurückgewiesen worden. Wohl aber hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß demokratische Entscheidungs- und Kontrollmethoden nicht nur im eigentlich politischen Bereich, sondern überall da notwendig sind, wo es um Entscheidungen über den Vorrang verschiedener Werte und Interessen geht - vor allem im Sinne der betrieblichen und gewerkschaftlichen Mitbestimmung in der Industrie -, und daß auch in der Durchführung zentraler politischer Entscheidungen Methoden der Delegation und Konsultation am besten geeignet sind, die Resultate zu verbessern und das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Vor allem die Mitbestimmung der Beschäftigten in den Großunternehmen, die in der Bundesrepublik gesetzlich verankert ist und in einer zunehmenden Zahl westeuropäischer Staaten zur Diskussion steht, kann die öffentliche Kontrolle der Entscheidungen der Großkonzerne zwar nicht ersetzen, aber sie in wichtigem Grade ergänzen.

Neue Schranken des Fortschritts - neue strategische Aufgaben

Die Fortschritte in sozialistischer Richtung, in der schrittweisen Verwirklichung sozialistischer Teilziele im Rahmen des demokratisch gesteuerten Kapitalismus, haben eine gewaltige Bedeutung für die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen in den demokratisch regierten Industriestaaten gewonnen. Doch die Krisen der frühen siebziger Jahre - Inflation und Rezession, Rohstoffproblem und Konflikte mit der Dritten Welt - zeigen an, daß diese Fortschritte begonnen haben, auf strukturelle Schranken zu stoßen, die nur durch neue institutionelle Veränderungen von grundsätzlicher Bedeutung überwunden werden können.

Das Problem der Investitionslenkung

Die eine solche Schranke liegt darin, daß im Zeitalter der Annäherung an die Grenzen des Wachstums, der zunehmend akuten Probleme der Rohstoff- und Energieversorgung und des Umweltschutzes, die Methoden der Globalsteuerung des Umfangs des Wirtschaftswachstums nicht mehr ausreichen: daß eine strukturpolitische Beeinflussung der Richtung der Investitionen - eine Förderung von rohstoff- und energiesparenden und umweltschonenden Produktionsrichtungen, eine Behinderung von rohstoff- und energieverschwendenden und umweltzerstörenden - auf Sicht zur Bedingung des Überlebens für uns alle wird. Ich habe schon gesagt, daß auch eine solche selektive Investitionspolitik in weitem Umfang mit.«marktkonformen«, monetären und fiskalischen Methoden ohne direkte administrative Eingriffe möglich ist - es gibt natürlich in allen Industrieländern auch heute schon erhebliche, wenn auch unsystematische Ansätze dazu - und daß solche indirekte Lenkung direkten bürokratischen Eingriffen wenn irgend möglich vorzuziehen ist; dennoch würde der Übergang zur systematischen Lenkung der Richtung der Investitionen einen nicht minder grundsätzlichen Entwicklungsschritt bedeuten als seinerzeit der Übergang zur systematischen Beeinflussung ihres Umfangs mit dem Ziel der Vollbeschäftigung und des stetigen Wachstums. Wie damals, ist auch heute das Lebensinteresse an der Kontrolle der Richtung der Investitionen keineswegs auf die Sozialisten beschränkt - es ist eine völlig falsche Vorstellung, daß die leidenschaftliche Diskussion über diese Frage bloßem sozialistischen Dogmatismus entspringe. Aber wie damals handelt es sich objektiv um einen weiteren Schritt der Entwicklung in sozialistischer Richtung, und wir können erwarten, daß in erster Linie die demokratisch-sozialistischen Bewegungen auf ihn drängen werden.

Die nationalen Schranken der Wirtschaftslenkung

Die andere strukturelle Schranke weiteren ökonomischen und sozialen Fortschritts, die in den Krisen der letzten Jahre sichtbar wurde, ist das Fehlen von internationalen (oder auf Sicht übernationalen) Institutionen ökonomischer Steuerung. Wie seinerzeit die beginnende Globalsteuerung der Einzelstaaten erst aus dem Stadium der Mangelplanung herauskommen und dauerhafte, allgemeine Erfolge zeitigen konnte, nachdem das Weltwährungsabkommen von Bretton Woods und ergänzende amerikanische Maßnahmen den weltweiten Währungs- und Kreditzusammenhang wiederhergestellt hatten, so ist heute erst recht nicht zu erwarten, daß nationalstaatliche Maßnahmen der qualitativen Investitionskontrolle eine dauerhafte Sicherung der internationalen Rohstoff- und Energieversorgung bewirken können, geschweige denn, daß die einzelnen Industriestaaten standfeste Dämme gegen die Wiederkehr einer weltweiten Inflation errichten oder erfolgreiche Preisverhandlungen mit den Rohstoffproduzenten führen könnten. 1946 hielt ich noch eine wirksame sozialistische Planung in einem westeuropäisch-angelsächsischen»Großraum« zwischen den amerikanischen und sowjetischen Kolossen für möglich. Heute bin ich überzeugt, daß per nächste strukturelle Schritt vorwärts in sozialistischer Richtung durch regionale Zusammenarbeit zwar wesentlich gefördert, aber nur durch die Herausbildung gemeinsamer Institutionen aller demokratisch regierten Industriestaaten dauerhaft gesichert werden kann. Das trifft übrigens auch den Kern des viel diskutierten Problems der »multinationalen« Konzerne: Weil sie sich ihrer Natur nach einzel staatlicher Kontrolle weitgehend entziehen, entziehen sie sich bisher jeder demokratischen Kontrolle. Dies Faktum aber illustriert die volle Schwierigkeit der vor uns liegenden Aufgabe: Wenn die neuen internationalen Institutionen ihre Rolle im Sinne einer sozialistischen Entwicklung spielen sollen, so müssen sie selbst einer demokratischen Kontrolle unterliegen - und die bisherige Geschichte der Europäischen Gemeinschaft zeigt, wie schwer Fortschritte in dieser Richtung durchzusetzen sind.

Bewegung und Ziel

Ich habe versucht, darzustellen, wieweit in den vergangenen Jahrzehnten neue Aspekte der sozialistischen Idee in den Vordergrund getreten sind, welche konkreten Teilfortschritte auf verschiedenen Gebieten erzielt wurden und wo heute die strategischen Kernprobleme für die Verwirklichung weiterer Fortschritte in sozialistischer Richtung liegen. Ein Ergebnis, das aus dieser Darstellung eindeutig folgt, ist, daß die Entwicklungswege sich nicht auf Grund einer Art reiner Logik der sozialistischen Idee über längere Zeit voraussagen lassen; vielmehr ist es der im einzelnen unvorhersehbare Geschichtsverlauf, der jeweils die konkreten Probleme aufwirft, die eine Lösung in sozialistischer Richtung erfordern und - auf Grund ihrer auch für Nichtsozialisten fühlbaren Dringlichkeit - erlauben. Mit der Veränderung des Entwicklungswegs, mit den neuen geschichtlichen Erfahrungen, verändert sich aber auch das Ziel selbst: so werden etwa mit dem Bewußtwerden der Grenzen des Wachstums Vorstellungen von einem künftigen Ende aller Knappheit, einem Studium des Überflusses, das eine Verteilung nach dem Grundsatz »jedem nach seinen Bedürfnissen« ermöglichen und den jeder Lohnarbeit immanenten Zusammenhang zwischen Einkommen und Leistung beseitigen würde, in einem Sinne utopisch, in dem sie es vorher nicht waren. Das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft, in der die Unentbehrlichkeit beruflich spezialisierter Leistungsfunktionäre auf Grund wirksamer demokratischer Kontrolle nicht mehr zu ihrer Abschließung als Oberschicht mit erblichen Privilegien führt, bleibt grundsätzlich nichtutopisch. Doch wird es fragwürdig, hier von einem Endziel zu sprechen, weil der Geschichtsverlauf kein Endstadium der Entwicklung zuläßt: Vielmehr müssen wir damit rechnen, daß unter wechselnden künftigen Bedingungen der Kampf gegen eine neue Herausbildung von Klassenvorrechten immer wieder neu geführt werden muß.

Mit anderen Worten: Wir können keinen Zustand der Gesellschaft voraussehen, in dem gesagt werden könnte: Jetzt ist »der Sozialismus« verwirklicht. Vielmehr ist, wie das Godesberger Programm der deutschen Sozialdemokratie mit Recht hervorgehoben hat, der Kampf um den Sozialismus eine niemals endende Aufgabe. Eduard Bernstein hat einen ähnlichen Gedanken seinerzeit in die berühmten Worte gefaßt: »Die Bewegung ist alles, das Endziel nichts«. Ich würde sagen: Das Ziel ist kein Endziel, sondern der Richtpunkt einer niemals endenden Bewegung. Der Unterschied liegt darin, daß ich überzeugt bin, daß die Bewegung auf ein Ziel als Richtpunkt nicht verzichten kann. Die Übereinstimmung liegt darin, daß das Ziel mißverstanden wird, wenn man es als Endziel verabsolutiert und deshalb die konkreten Errungenschaften der Bewegung mißachtet.

Ich habe 1946 die neue sozialistische Strategie der Transformation der kapitalistischen Klassengesellschaft durch demokratische Planung nicht nur zu der früheren revolutionären Doktrin in Gegensatz gestellt, die den demokratischen Staat gewaltsam umzustürzen hoffte, sondern auch von der früheren reformistischen Praxis unterschieden, die sich ausschließlich auf partielle Verbesserungen der Lage der arbeitenden Klassen konzentrierte. Das hat Gegner, aber auch Freunde nicht gehindert, mich als Theoretiker des Reformismus einzustufen. 14 Die hier entwickelte Überzeugung, daß das sozialistische Ziel kein »Endziel« sein kann, daß die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische ein langfristiger, vielstufiger Prozeß ohne datierbaren Abschluß ist, habe ich - wie alle Anhänger des Godesberger Programms - mit dem älteren Reformismus gemeinsam. Doch der Übergang der demokratisch-sozialistischen Bewegung von Teilreformen zur planmäßigen, demokratischen Steuerung der Wirtschaft und Transformation der Gesellschaft im ganzen scheint mir auch heute noch einen ebenso wichtigen Einschnitt in der Geshichte dieser Bewegung zu markieren, wie der Übergang zur Qlobalsteuerung der Marktwirtschaft in der Geschichte dieser Gesellschaft selbst.

Schlußbemerkung

Zum Schluß möchte ich, über die Veränderung und Fortschreibung meiner Auffassungen zu den konkreten Problemen der gesellschaftlichen Entwicklung hinaus, Rechenschaft über die Veränderung meines methodischen Standpunktes geben. Als »Paul Sering« das vorliegende Buch schrieb, fühlte er sich als Marxist - wenn auch ausdrücklich nicht als »orthodoxer« Marxist. Ich würde mich heute nicht mehr so beschreiben.

Natürlich weiß ich auch heute, wie viel ich - wie jeder ernsthafte zeitgenössische Sozialwissenschaftler - den Marxschen Fragestellungen und der Marxschen Methode verdanke, und wie entscheidende Anstöße die demokratisch-sozialistische Arbeiterbewegung dem Marxschen Konzept der historischen Vergänglichkeit des Kapitalismus und der Schlüsselrolle der Arbeiterklasse im Kampf um den Sozialismus verdankt. Aber so gewiß die Marxsche Perspektive, daß das kapitalistische System die Voraussetzungen seiner historischen Überwindung produziert, sich als entscheidend fruchtbarer Zugang zur Analyse der modernen Industriegesellschaften erwiesen hat, so gewiß hat die Marxsche Vorstellung davon, wie diese Überwindung sich vollziehen werde, sich nicht nur in Einzelheiten, sondern in den Kernpunkten als falsch erwiesen: Hundert Jahre nach Marxens Tod hat es in keinem einzigen entwickelten Industrieland eine proletarische Revolution gegeben, und selbst die Kommunisten Westeuropas glauben nicht mehr an ihre Möglichkeit. Dagegen hat der demokratische Staat, der zu Marxens Zeiten nur in Ansätzen existierte, deren Potential er nicht voraussah, sich als entscheidender Faktor der gesellschaftlichen Transformation erwiesen, und in ihm ist die Rolle des Trägers des Fortschritts nicht auf die Industriearbeiter beschränkt geblieben, die im Gegensatz zu seinen Erwartungen einen abnehmenden Anteil der Bevölkerung ausmachen, sondern von Massenparteien mit wesentlich breiterer sozialer Basis übernommen worden.

Ein anderer Kernpunkt der Marxschen Einseitigkeit betrifft die Methode selbst - die deterministische Überschätzung der ökonomisch-sozialen Struktur, die auch nach meiner Auffassung der gesellschaftlichen Entwicklung auf jeder Stufe die entscheidenden Probleme stellt und die Möglichkeiten der Lösung begrenzt, und die Unterschätzung der kulturell bedingten Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten in diesem Rahmen. Marx hat zwar auf Grund seiner umfassenden Bildung diese Vielfalt immer wieder wahrgenommen und in konkreten historischen Analysen auf sie hingewiesen, aber er hat sie niemals in seine methodischen Darlegungen eingebaut und hat insbesondere die Einzigartigkeit der Dynamik des Westens nie systematisch zur Kenntnis genommen. So ist es mit Marxschen Mitteln weder möglich, die besonderen Probleme der Entwicklungsländer und die Erfolge der angeblich »marxistischen«Kommunisten in diesen Ländern mit relativ geringen industriellen Voraussetzungen zu erklären, noch die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit demokratischer Institutionen im Westen.

Gewiß war ich mir dieser Grenzen der gewaltigen wissenschaftlichen Leistung von Marx auch 1946 schon bewußt. Was ich noch nicht mit der notwendigen Klarheit erkannte, war, wie unauflöslich diese Leistung in dem Marxschen Gesamtwerk und in dessen Wirkungsgeschichte mit einem nicht wissenschaftlichen Element verbunden ist - einem diesseitsreligiösen Erlösungsglauben, der dem industriellen Proletariat die Rolle des Erlösers der modernen Welt zuschreibt. Es ist dies diesseitsreligiöse Element, das immer wieder die Verwarnung marxistischer Formeln als Ideologie totalitärer Bewegungen ermöglicht hat, obwohl Marx selbst von der Vorstellung einer totalitären Partei und Parteidiktatur nach kurzem Schwanken in den Jahren 1849/50 entscheidend abgerückt war. Es ist auch dieses diesseitsreligiöse Element, das die dogmatische Erstarrung des Marxismus zur »Orthodoxie« begünstigt und die Position eines »unorthodoxen Marxisten« notwendig Mißverständnissen aussetzt. Die vergangenen drei Jahrzehnte haben mich noch mehr als vorher von dem zerstörerischen Potential jeder Diesseitsreligion überzeugt. So habe ich es seit langem vorgezogen, das mißverständliche Etikett zu vermeiden.

Berlin, Ende August 1976 R. L.


Anmerkungen

  1. Eine ähnliche zu enge Auffassung der für Vollbeschäftigung und stetiges Wachstum notwendigen Planungsmaßnahmen unter dem Eindruck der relativ zufälligen historischen Züge der Mangelplanung hat auch die Politik der deutschen Sozialdemokratie und der englischen Labour Party in den frühen Nachkriegsjahren beeinflußt und die Gleichsetzung von Sozialismus mit Zwangswirtschaft in der antisozialistischen Propaganda in beiden Ländern begünstigt. Sie lag auch der anfänglichen Gegnerschaft der SPD und dem längeren Widerstand der Labour Party gegen die west-europäische wirtschaftliche Integration zugrunde, insofern beide Parteien befürchteten, die Integration in ein kapitalistisches Westeuropa werde die Verwirklichung ihrer Vorstellungen von nationaler Planung behindern.
  2. Vgl. die Tabelle der »Hauptkategorien von Regierungsausgaben« aus der Abteilung für Finanzanalysen des U.S. Schatzamtes, zitiert in Daniel Bell Die Zukunft der westlichen Welt, Frankfurt, S. Fischer 1976, S. 325.
  3. Ich habe auf diese geschichtlich neue Phase in meinem Aufsatz über »Die Zukunft des Sozialismus in den demokratischen Industrieländern« - jetzt Kap. 1 in Richard Löwenthal, Sozialismus und aktive Demokratie, Frankfurt (S. Fischer) 1974 - und in meiner Auseinandersetzung mit Habermas' Theorie der Legitimationskrise,»Gesellschaftlicher Wandel und demokratische Legitimität«, Neue Rundschau 4/1975, hingewiesen.
  4. Vgl. hierzu meinen Aufsatz über »Demokratie und Leistung. Bemerkungen über Sinn, Ort und Grenzen der Demokratisierung gesellschaftlicher Bereiche« in R. L., Sozialismus und... a.a.O.
  5. Ich habe dazu zuerst in dem oben (Anm. 3) zitierten Aufsatz über die Zukunft des Sozialismus Stellung genommen, der ursprünglich für eine Anfang 1972 gehaltene Konferenz geschrieben wurde.
  6. Vgl. hierzu R. Löwenthal, Chruschtschew und der Weltkommunismus, Stuttgart 1963.
  7. Für meine Analyse und Kritik der amerikanischen Vietnampolitik vgl. R. Löwenthal, »Americas Asian Commitment«, Encounter, August 1965.
  8. Vgl. R. Löwenthal, Der Romantische Rückfall, Stuttgart 1970, und insbesondere das Kapitel über»Unvernunft und Revolution«, das auf einen Anfang 1969 gehaltenen Vortrag zurückgeht.
  9. Jürgen Habermas, Legitimationskrisen im Spätkapitalismus, Frankfurt 1973.
  10. Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die Anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975.
  11. Daniel B ell, Die Zukunft der westlichen Welt, Frankfurt 1976 (Anm. 2)
  12. Für meine Auseinandersetzung mit diesen Auffassungen vgl.R. Löwenthal, »Neues Mittelalter oder anomische Kulturkrise?« Merkur 9/1975 (zu Schelsky); ders. »Gesellschaftlicher Wandel und...« (Anm. 3) (zu Habermas) ders., »Kapitalistische Dynamik und westliche Werte« in Neue Rundschau, 1977/1 (zu Bell).
  13. Hierzu ausführlich mein Aufsatz über »Demokratie und Leistung«, zitiert in Anm. 4
  14. So in freundlicher Absicht neuerdings Peter Glotz, Der Weg der Sozialdemokratie. Der historische Auftrag des Reformismus, Wien/München/Zürich 1975.